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Die Computer-Tastaturen der Musikjournalisten müssen dringend erweitert werden. Immer häufiger werden nämlich die Buchstaben der nordischen Sprachen benötigt: Æ, Ø, Å und Ö. Wurde Björk im englischen Sprachraum bislang noch um die beiden Punkte auf dem O beraubt, muss sich Resteuropa inzwischen doch an Erlend Øye, Röyksopp und Bjørn Berge gewöhnen. Vorbei die Zeiten, als Pioniere des Nordland-Pop wie Abba und A-ha ihre Bandnamen nach international verständlichen Phonetikmustern ausrichteten.
Die selbstverständliche Namensbehauptung ist Indiz für ein neues Bewusstsein: Insbesondere die norwegische Szene hebt sich inzwischen wohltuend vom angloamerikanischen Mainstream ab. Was in Frankreich durch staatliche Förderprogramme und Quotenrichtlinien erreicht wurde, entwickelt sich zwischen Oslo, Stavanger und Tromsø fast wie von selbst: Überall im Land tun sich junge Leute zusammen, experimentieren, variieren oder verwerfen die Gesetze der Rockmusik mit erfrischender Unbekümmertheit. Wenn nötig, erfinden sie das Rad einfach neu - und sie tun gut daran: Es ist dann ihr Rad. Die jungen Interpreten und Bands bestehen außerdem darauf, ihre Produktionen selbst zu verlegen und erzielen damit durchschlagenden Erfolg: Die neu gegründeten Independent-Labels veröffentlichen 70% aller norwegischen Neuerscheinungen pro Jahr. Während in Deutschlands Plattenindustrie tiefe Depression herrscht, so freut man sich in Norwegen über satte Gewinne: Musikmagazine verzeichnen Umsatzzuwächse im zweistelligen Prozentbereich, Fernsehsender bauen ihre Musikprogramme aus, und gelegentlich finden sich unter den Top 5 der Charts drei heimische Produktionen, die in der Regel noch nicht einmal Mainstreamware sind - sondern eben die Alben der jungen Indie-Szene. Kaizers Orchestra etwa, Oslos größter Coup, setzte sensationelle 50.000 Exemplare des Debüt-Albums "Ompa til du dør" ab. Um eine ähnliche Verbreitung nachzuweisen, müsste eine Band bezogen auf die deutsche Bevölkerung ca. 1 Mio. Tonträger verkaufen. Und dabei ist Kaizers Orchestra mit seinem balkanesken Pogo-Punkpop zwar das erfolgreichste Beispiel - aber keines wegs das einzige. Vorausgegangen waren bereits die Kings of Convenience mit ihrem geflüsterten Schlachtruf "Quiet is the new Loud" - dem sich inzwischen zahlreiche nationale (Ai Phoenix, The White Birch) und internationale Bands angeschlossen haben. Doch besonders Weg weisend ist die Electronica-Avantgarde des Landes, die mit Bands wie Röyksopp, Slowpho, Flunk, Xploding Plastix, Ralph Myerz und Erlend Øye auch international Maßstäbe setzt.
Der enge kulturelle Austausch zwischen den nordischen Ländern hat längst auch die Nachbarn beflügelt. In Island, wo man schon seit den Sugarcubes aus der relativen Isolation eine Tugend und immer wieder mit erstaunlichen Klängen und Rhythmen von sich reden macht, revolutionierte Björk - und im Gefolge Sigur Rós - nicht einfach nur Rock und Pop, sondern Ambient, Triphop, Drums&Bass, Klassik und Electronica gleich mit. In Dänemark fallen vor allem kleine Labels wie April Records und Auditorium mit innovativen Produktionen auf. Aus dem April-Stall stammt Thomas Knak alias Opiate, der inzwischen einer der gefragtesten Pioniere elektronischer Klangkunst ist. Auditorium Records ist interessanterweise gar nicht in Dänemarks einziger Metropole Kopenhagen beheimatet, sondern im jütländischen Århus. Dort veröffentlicht beispielsweise Lise Westzynthius ihre vielfältigen Produktionen. Und auch Dänemarks derzeit interessanteste Band Under Byen kommt aus Århus.
In Schweden wiederum, so scheint es, geht es den Musikern weniger um die Revolutionierung der Hörgewohnheiten, sondern vielmehr um die Perfektionierung. Eine der erfolgreichsten Bands ihrer Genres stammen aus Schweden; etwa Kent, die mit zeitlosem Poprock brillieren, The Cardigans, die gerade das beste Album ihrer an Höhepunkten nicht eben armen Bandgeschichte veröffentlichten ("Long gone before Daylight"). Newcomer wie etwa Nicolai Dunger versuchen sich mit respektablem Ergebnis an der Wiederbelebung des Westernblues, während Geheimtipp Jay-Jay Johanson nach Ausflügen in den Triphop nunmehr den Synthiepop der 80er von hinten aufrollt. Insgesamt scheint das Reservoire der bevölkerungsarmen nordischen Länder ebenso unbegrenzt wie die Möglichkeiten, mit immer neuen Sounds für Furore zu sorgen. In Finnland reicht die Palette momentan vom ambient-orientierten Vokal-Folk von Värttinä - jüngst mit dem Vierteljahrespreis der deutschen Schallplattenkritik dekoriert - bis zu dem völlig unglaublichen Heavy-Metal-Cello-Quartett Apocalyptica.
Sie alle sind der Beweis einer Achsenverschiebung, die langsam, aber stetig voranschreitet - und längst unumkehrbar ist. Der Pop/Rock-Nachwuchs folgt damit den Jazz-Musikern: Die gehören schon seit Jahren zur internationalen Spitzenklasse. London als die europäische Musikmetropole verfügt bereits nicht mehr über das Trendmonopol. "Neben"-Zentren wie Paris, Barcelona und eben die nordischen Groß- und Kleinstädte entlang des Polarkreises sorgen für den lang ersehnten Kreativitätsschub der Popkultur. Mit unserem Themen-Spezial "Nordland Pop" wollen wir einige der interessantesten Bands und Projekte aus dem Norden vorstellen. Nicht alle Alben wurden bereits auch in Deutschland veröffentlicht, sollten jedoch als Importe erhältlich sein. Unser Überblick erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern will Wegweiser für Neugierige sein, Einstiege vermitteln und Interesse wecken. God Fornøjelse !
©
Michael Frost, 08. August 2003
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