Manchmal
ist das Rezensentendasein undankbar. Man sitzt mit aufgezogenem Kopfhörer
und geschlossenen Augen, einerseits bequem, andererseits voller Anspannung
- und fragt sich ebenso ratlos wie begeistert: Was zum Teufel ist
das? Und wie erklärt man das seinen Lesern?
An
sich ist die Antwort einfach. Das sind The Concretes. The Concretes
kommen aus Schweden. Doch diese Tatsache an sich gilt als so nebensächlich,
dass sie im Pressetext irgendwo ganz unten erwähnt wird. Wie
eine "komplett untalentierte Ausgabe" der Cardigans klängen
The Concretes, schrieb ein amerikanischer Kritiker. Das fanden die
Schweden so witzig, dass sie das Zitat in ihre Bandbio aufnahmen.
The Concretes haben also Humor - und Recht. Denn in Wirklichkeit sind
The Concretes ganz anders. Wie eine Mischung aus - ja, woraus eigentlich?
Vielleicht
Belle & Sebastian. Mit den Schotten gemein haben sie die zunächst
unklare Anzahl an Mitgliedern. Oder norwegische Nachbarn wie Ai Phoenix,
The White Birch und Schtimm. Mit ihnen verbindet sie der klare, handgemachte
Akustiksound. Dann aber denkt man an eine Ökokommune, eine provokante
Hippieband aus der Beatclub-Ära und den Soul der Supremes. Diana
Ross haben sie sogar einen Song gewidmet. Doch gleich im Anschluss
präsentieren sie einen schunkelnden und ziemlich großartigen
Kirmeswalzer ("Warm night"). .
Doch
zum Grübeln über Zusammenhänge bzw. deren Abwesenheit
bleibt keine Zeit. Denn schon im nächsten Moment biegt vor dem
geistigen Auge eine versponnene Gruppe der Evangelischen Jugend auf
dem Rückweg vom Kirchentag um die Ecke. Denn in ihrem Innersten
klingen The Concretes euphorisch, als verbinde sie eine gemeinsame
Überzeugung, ob nun in metaphysischer, musikalischer oder sonstiger
Hinsicht.
Der
Funken springt jedenfalls über. Mehr noch: das Album elektrisiert.
Um es zu realisieren, haben The Concretes ihr eigenes Label gegründet:
"Licking Fingers". Und von ihrem Vorhaben, die Zahl der
Bandmitglieder drastisch zu reduzieren, um eine übersichtlichere
Band-Bio zu schreiben "oder schnelle Entscheidungen zu treffen"
(Pressetext), rückten sie ab. Martin Hansson (Bass), Lisa Milberg
(Drums), Maria Eriksson (Gitarre), Per Nyström (Tasten), Ulrik
Karlsson und Ludvig Rylander (Horn), und natürlich die bereits
erwähnte Victoria Bergsman formen The Concretes als Oktett. Einerseits.
Denn
andererseits benannten sie weitere zwanzig Musiker zu "Ehren"-Mitgliedern.
Sie alle sind an diesem herausragenden Debüt beteiligt, darunter
übrigens auch Folk- und Bluessänger Nicolai Dunger. Dank
der ausgelassenen Stimmung und der vielen Gäste können The
Concretes aus dem Vollen schöpfen. Bläser, Streicher, Backgroundchor
- was immer ihnen gerade in den Kopf kommt, auch die absurdeste Idee
setzen sie im 1:1-Format um, kaleidoskopartig werden Musiker, Instrumente
und Rhythmen durcheinander gewürfelt und ergeben so ständig
neue Muster.
Wie
auch immer. Viele Worte, die das Album der Concretes beschreiben -
und auch wieder nicht. Denn die ungeheure Spontaneität ihrer
Songs, die ungeschliffene Natürlichkeit ihres Ausdrucks, die
Unbekümmertheit, mit der sie Genres, Klischees und die Regeln
des Marktes einfach ignorieren, ist hinreißend, von geradezu
entwaffnender Offenheit, vor der jeder ernsthafte Versuch der Kategorisierung
nur lächerlich wirken kann.
Die
Beantwortung der eingangs gestellten Frage, wer oder was hier eigentlich
hier eigentlich gespielt wird, ist deshalb völlig bedeutungslos.
So wird sich jeder sein eigenes Bild machen müssen, aber, so
viel ist sicher: es ist in jedem Fall ein Gewinn. So dankbar war das
Rezensentendasein jedenfalls lange nicht ...
©
Michael Frost, 13.03.2005