Der
Jazz, so die Online-Enzyklopädie Wikipedia, stellt den "Interpret
mit seinem Charakter und seiner individuellen Tonbildung und Phrasierung"
in den Mittelpunkt. Damit bilde der Jazz den Gegensatz zum Ideal "präzise
notierter Kompositionen", welches den Interpreten als "untergeordnetes
Ausführungsorgan" sehe.
Nimmt
man diese Definition als Maßstab, ist Nils Petter Molvær
ein Jazz-Musiker. Geht man allerdings danach, was nach allgemeinem
Musikempfinden als Jazz bezeichnet wird - Swing, New Orleans, Free,
Cool usw. - wird die Zuordnung schon schwieriger. Auch der Norweger
selbst hätte, danach befragt, vermutlich seine Schwierigkeiten
mit der genauen Typisierung. Doch größer ist die Wahrscheinlichkeit,
dass ihn solch theoretische Debatten überhaupt nicht interessieren.
Früher hätten ihn Bands wie Led Zeppelin, Deep Purple und
Black Sabbath inspiriert, sagt er, später dann Miles Davis und
Brian Eno. Mit skandinavischen Kollegen wie Jan Garbarek (die zum
Teil auch langjährige Weggefährten sind) teilt er wiederum
die Begeisterung für Jazz, allerdings eben nicht in seiner bekannten
Form, sondern wegen seiner Offenheit für äußere Einflüsse.
Während
Garbarek beispielsweise den Jazz immer wieder mit den musikalischen
Traditionen Norwegens verband, experimentierte Molvær schon
früh mit elektronischen, digitalen Klängen, arbeitete mit
Samples und Drum-Computern, die seiner Version des Jazz eine avantgardistische,
zukunftsweisende Note gaben. Atmospährischer Ambient-Sound, düstere,
entrückte Klänge wirken wie Stilmittel der Verfremdung,
mit denen eine eigene Wirklichkeit geschaffen werden soll.
Molvær
ist Trompeter, und dieses Instrument ist auch auf seiner in London
und Tampere (Finnland) aufgenommene Live-Einspielung "Streamer"
das beherrschende Thema, oftmals sogar der einzige Halt für seine
Zuhörer in einer Welt aus Tönen und Klängen, die wie
ausgestorbene Hochhausschluchten nach Mitternacht klingen - nur ungern
wäre man hier allein unterwegs. So hält man sich an Molværs
Trompete und lauscht in die Nacht hinaus, nimmt die bedrohlichen Breakbeats,
die desparaten Samples, das Gewisper und Geflüster sozusagen
sicherer Entfernung wahr, um plötzlich zu erkennen: Hier steht
der Interpret mit seinem Charakter im Mittelpunkt, seiner individuellen
Tonbildung und Phrasierung, einzigartig wie ein genetischer Fingerabdruck
- und dann weiß man: das muss Jazz sein.
©
Michael Frost, 20. August 2004