"Excuse
me, but I just have to explode." Björk kommt, wie in dieser
Zeile aus ihrem Stück "Pluto", schnell zum Wesentlichen.
Tatsächlich explodiert die Gefühlswelt der Isländerin
mit jedem Lied aufs Neue, und immer in neuen, ungeahnten Formen, fast
wie einer der unzähligen Vulkane ihrer Heimat.
Am
anderen Ende ihrer Gefühlsskala stehen Auftritte wie bei der
Eröffnungszeremonie der Olympischen Spiele in Athen. Vier Milliarden
Fernsehzuschauer erlebten Björk als betörende Loreley, die
mit Sirenengesang einen ganzen Ozean heraufbeschwört, völlig
selbstvergessen und in sich gekehrt, als gäbe es nichts auf der
Welt außer ihrer Musik.
Die
Meisterin der Extreme mischt seit Beginn der 90er Jahre die internationale
Musikszene auf wie keine zweite Künstlerin. Aggressiv oder verschüchtert,
balladenhaft oder technoid, in Begleitung eines Streichorchesters
oder von Pionieren der Electronica-Szene (am liebsten alle gleichzeitig)
- Björk fügt zusammen, was vor ihr nie zusammen gehörte.
Geboren
wurde Björk Guðmundsdóttir am 21. November 1965 in
Reykjavik. Bereits im zarten Alter von nur zwölf Jahren nahm
sie ihre erste Platte auf, die in Island gleich mit Platin ausgezeichnet
wurde. Das Album bestand in der Hauptsache aus Cover-Versionen , darunter
"Fool on the hill" von den Beatles und "Your kiss is
sweet" von Stevie Wonder. Der Verkaufserlös der Platte ermöglichte
ihr den Kauf eines eigenen Klaviers, auf dem sie fortan ihre eigene
Musik komponieren sollte.
Zwischen
Björk und dem Klavier lag jedoch Ende der 70er Jahre die Punk-Bewegung,
die auch vor Island nicht Halt machte. Björk engagierte sich
sehr und gründete eine Band, die sie nach einem Jahr aber wieder
verließ. Nach kurzen Ausflügen in Richtung Jazz kam sie
1982 noch einmal zum Punk zurück. "Tappi Tikarrass",
so der Name der neuen Band, veröffentlichte in Island zwei Alben.
Mit
der nachfolgenden Band "Kukl", deren Musik Björk als
"Hardcore-existenzialistischen Punk-Jazz" bezeichnete, beschritt
sie 1983 einen neuen Weg in ihrer Karriere, der drei Jahre andauerte.
Nach
der Trennung der Band 1986 (im selben Jahr wurde auch Björks
Sohn Sindri geboren), einem Kurzausflug als Schauspielerin ("The
Juniper Tree" nach einem Märchen der Gebrüder Grimm)
folgte schließlich die Gründung der international beachteten
Sugarcubes, deren Alben nicht nur in Island, Großbritannien
und Kontinental-Europa, sondern auch in den USA erfolgreich vermarktet
wurden. The Sugarcubes avancierten schnell zum Geheimtipp, denn ihre
Musik war im Vergleich zu den internationalen Trends der späten
80er Jahre ziemlich einzigartig, und der Herkunft der Band von einer
eisigen Insel im Nordatlantik war natürlich ungemein exotisch.
Beeinflusst
wurde die Band durch die junge britische Independent-Szene, Post-Punk,
Synthie-Pop und Wave, aber eindeutig zuzuordnen war sie nicht, vor
allem die herausragende Stimmgewalt Björks verschaffte der Band
ihren unverwechselbaren Ausdruck.
Björk
wäre aber vermutlich nicht Björk, wenn sie sich auf den
Erfolgen mit den Sugarcubes ausgeruht hätte. Mit ihren alten
Freunden vom Tríó Gudmundur Ingólfssonar hatte
sie schon früher gelegentlich zusammen Musik gemacht, aber nur
spaßeshalber. 1991 wurde daraus, spontan entschieden und an
nur zwei Tagen live aufgenommen, "Gling-Gló", Jazz-Album
mit dreizehn Titeln, darunter Klassiker wie "Oh mein Papa"
auf Isländisch (Pappi mín), "Ruby baby" und
"Can't help loving that man of mine".
Als
sie 1990 die Computer-Musiker von 808 State kennen lernte, bahnte
sich der erneute Richtungswechsel an, den Björk im Jahr darauf
vollzog: Mit 808 State-Mitglied Graham Massey ging sie ins Studio,
um ihre ersten selbst komponierten Titel ("Aeroplane", "Anchor
song") aufzunehmen - ihre ersten Ausflüge in die Welt der
Samples und programmierten Loops. Nebenbei coverte sie alte Chet Baker-Klassiker
mit Unterstützung der Jazz-Harfenistin Corky Hale ("Like
someone in love", "I remember you") und absolvierte
noch die Abschiedstour der Sugarcubes im Vorprogramm von U2.
Aus
den ersten Experimenten mit Graham Massey erwuchs die Idee eines Solo-Albums,
auf dem Björk kompromisslos ihren eigenen Weg gehen und keine
Rücksicht mehr auf andere als ihre eigenen Ideen nehmen wollte.
Sie hatte ein Konzept im Kopf, zog nach London in der Hoffnung, dort
die richtigen Leute und Bedingungen für die Aufnahmen zu finden
und traf tatsächlich auf Nellee Hooper. Alles sollte passen.
In der Hauptsache waren es zwei Franzosen, die für die ausgefeilte
Optik von Björks "Debut" sorgten: Michel Gondry, der
den Videoclip zu "Human behaviour" realisierte, und Jean-Baptiste
Mondino, der die Fotos für das Cover machte.
Wer
die Sugarcubes noch verpasst hatte, kam an Björk nicht mehr vorbei.
Zu eigenwillig, zu bizarr, zu konsequent und zu eindringlich war ihre
Musik, waren die Video-Clips, als dass man sie übersehen oder
überhören konnte. Die Lieder bewegten sich zwischen traditionellen
Balladen und dem von Björk so erwünschten "Hardcore-Techno"
und formten gemeinsam eine neue musikalische Richtung, mal verspielt
und verwunschen, dann wieder hämmernd und dröhnend, leidenschaftlich
und explosiv - Musik aus dem Innenleben eines brodelnden Vulkans.
Für
die Aufnahmen ihres zweiten Geniestreichs zog es Björk mit ihren
Produzenten Nellee Hooper, Marius de Vries und Howie B. auf die Bahamas.
Allein mit einem digitalen Aufnahmegerät habe sie die Lieder
für "Post" nachts am Strand gesungen und später
im Studio mit Instrumenten unterlegt, erzählte sie über
die Album-Entstehung. Nach einer weiteren Überarbeitung mit Bläser-
und Streichersequenzen war "Post" schließlich fertig
- abwechslungsreicher, vielseitiger und nochmals experimenteller als
"Debut".
Das
Album bescherte ihr - neben weiteren Lobeshymnen von Fans und KritikerInnen
- den 1996er BritAward als "Beste Künstlerin des Jahres",
aber auch Stress, der die empfindsame Isländerin zu überrollen
drohte.
Nachdem
sie selbst in ihrer isländischen Heimat vor dem Star-Rummel nicht
mehr sicher war, zog es sie für die Aufnahmen ihres dritten Albums
nach Südspanien. Im abgelegenen El Madronal fand sie das passende
Studio für die Einspielung von "Homogenic", der CD,
die im Herbst 1997 erscheinen sollte. Das Album markierte wiederum
einen neuen Abschnitt in Björks Schaffens. "Homogenic"
wurde dunkler als die Vorgänger, ernster und voller düsterer
Energien, die sich vor allem in den hämmernden Beats von "Hunter"
und "Five years" ausdrücken, aber zum Ausgleich gibt
es auch Stücke wie das grandiose, epische "Bachelorette",
großes Gefühl: Cinemascope für die Ohren.
Zu
den Alben gehören untrennbar die Singles, die Björk zu allerlei
Experimenten nutzt: Regelmäßig lässt sie Remixes ihrer
Titel produzieren, überwiegend von Kollegen der allerersten Güte
wie Skunk Anansie, Goldie, State of Bengal, Deodate, Guy Sigsworth,
Howie B. oder dem Brodsky Quartett, deren nur mit ihren Streichinstrumenten
begleitete Version von Hyperballad so überzeugend war, dass Björk
mit ihnen im Dezember 1999 zwei Konzerte in der Londoner Union Chapel
veranstaltete (inzwischen ausschnittsweise in der "Family Tree"-CD-Box
veröffentlicht).
Man
hört der Musik die Persönlichkeit an, die hinter ihr steht
und von der sie erdacht und realisiert wurde. Dass dieser beeindruckende
und ausdrucksvolle Charakter, dessen wahre Stärken Sensibilität
und Aufrichtigkeit sind, auch die Schauspielerei mit der gleichen
Präzision und Kompromisslosigkeit angeht, davon konnte sich die
Welt im Jahr 2000 überzeugen, als Lars von Triers Film "Dancer
in the dark" in die Kinos kam. Björk, die, nachdem sie ursprünglich
nur die Lieder für das Musical geplante Drama schreiben sollte,
übernahm schließlich auf Drängen von Triers auch die
Hauptrolle der "Selma".
Trotz
des Erfolgs (sie erhielt die Goldene Palme als beste Schauspielerin)
schwor Björk
allen weiteren cineastischen Ambitionen ab und widmete sich wieder
neuen musikalischen Experimenten, die in ihr Grammy-nominiertes Album
"Vespertine" mündeten.
Die verspielten und sehr intimen Songs dieses Albums brachte sie anschließend
in einem großen Kraftakt live auf die Bühnen europäischer
Opernhäuser, begleitet von einem Sympohnieorchester, dem Elektroduo
Matmos und einem Frauenchor aus Grönland. Ein Mitschnitt ihres
Auftritts in der Londoner Oper ist inzwischen auf DVD (Live at the
Royal Opera House) erschienen und gehört auch zum 4CD-Set "Livebox",
die Liveaufnahmen aller bisherigen Björk-Tourneen enthält.
Sowohl
die Konzert-Retrospektive auf DVD und CDs als auch die Raritäten-Sammlung
"Family Tree", die den verschiedenen Facetten der Musik
Björks nachspürt, markieren eine Zäsur. Björk
wird, wie durch ihren Olympia-Auftritt bereits angedeutet, einen neuen
Abschnitt ihrer künstlerischen Arbeit einläuten. Nachdem
sie von Gläsern über Tablas bis zu Cembalo, Harfe und Kirchenorgel
alle nur denkbaren Gegenstände zum Einsatz brachte, erklärte
sie im Vorfeld der Veröffentlichung ihres neuen Albums Medulla
sämtliche Musikinstrumente für überholt: "Instruments
are so over". Also scharte sie Acapella-Sänger wie den Japaner
Dokaka und die Inuit-Sängerin Tanya Tagaq Gillis um sich, Robert
Wyatt und Mike Patton, außerdem langjährige Weggefährten
wie Mark Bell, Matmos, Olivier Alary und Valgeir Sigurdsson und entwickelte
gemeinsam mit ihnen ein Klangkonzept, dass auf den Einsatz von Instrumenten
weitgehend verzichtete. Statt dessen ersetzen menschliche Stimmen
deren Part. Exotisch, erotisch und humorvoll sollte diese "neue"
Form des Acapella klingen - und keinesfalls "wie Manhattan Transfer
oder Bobby McFarin", wie Björk augenzwinkernd erklärt.
Und
weil sie immer das Gefühl hatte, nach der Produktion eines Albums
im Studio gut genug eingearbeitet zu sein, um gleich im Anschluss
eine weitere CD einzuspielen, habe sie genau dies nach Abschluss der
Arbeiten zu "Medulla" auch getan. Fans - und solche, die
es werden wollen - können sich also gleich auf ein weiteres Album
freuen - "Two in a row": Zwei auf einen Streich. Der Vulkan
brodelt wieder.
©
Michael Frost / 01.07.2001
Update: 15.08.2004