Auf
der Weltausstellung im Jahr 2000 in Hannover präsentierte sich
Island mit einem meterhohen polarblauen Kubus, an dessen Außenwänden
eiskaltes Wasser herunterlief. Im abgedunkelten Innern wurden Fotos
und Filmsequenzen an die Wände projeziert, die man von mehreren
Galerie-Ebenen aus betrachten konnte. In der Mitte des Raumes schoss
in regelmäßigen Abständen die einem Geysir nachempfundene
Wasserfontäne zehn Meter in die Höhe.
Die
durchdachte Architektur und das Zusammenwirken von Kunst und Technik
vermittelten dem Betrachter auf intuitive Weise die dunkle, magische
und eruptive Aura des Landes. Exakt das gleiche Empfinden weckt die
Violinistin Gerður Gunnarsdottír mit ihrem Partner Claudio
Puntin.
Es
gehört zu den Besonderheiten Islands über Künstler
zu verfügen, deren außergewöhnliches Gespür für
Landschaft und Atmosphäre sie immer wieder zu ebenso außergewöhnlicher
Musik befähigt.
Zweifelsohne
gehört auch Gerður Gunnarsdóttir zu dieser erlesenen
Gruppe. Gemeinsam mit Claudio Puntin (Klarinette, Bassklarinette)
veröffentlichte sie im Jahr 2001 das Album "Ýlir".
Die Aufnahmen dazu waren bereits zwischen 1997 und 1999 im Sendesaal
von Radio Bremen entstanden und gehen überwiegend auf eigene
Kompositionen von Puntin zurück, zum geringeren Teil auch auf
traditionelle isländische Melodien.
"Ýlir"
bezeichnet in der isländischen Sprache den Wintermonat, in dem
die Nächte am längsten sind. Und am kältesten. Doch
"in der Kälte", so heißt es, "ist die Energie
der Wärme". Genau aus diesem Grunde wirkt das gemeinsame
Spiel von Geige und Klarinette niemals wirklich unterkühlt. Frostige,
unwirtliche Passagen werden alsbald durch leise Harmonien aufgewärmt,
welche die bizarre Schönheit des abweisenden und eisigen Winters
zelebrieren.
Im
Gegensatz zur Strenge des Winters muss der isländische Sommer
eine fragile Zeit sein. Gunnarsdottír und Puntin interpretieren
ihn in dem Stück "Skerpla" (Mittsommer) so vorsichtig,
als könnte er jeden Augenblick zerbrechen. Hier, wie auch in
den "Reflections on Spring", bezieht die Musik ihre atmosphärische
Kraft aus der Stille.
Und
aus der Poesie. Von Halldór Laxness, Islands Nationaldichter
und Literatur-Nobelpreisträger stammt das Gedicht "Hvert
örstutt spor" (Jeder kleine Schritt), das Gerður Gunnarsdóttir
mit einfühlsamer Stimme singt.
Es
ist der berührendste Augenblick des Albums. In ihm werden Laxness'
Text, Puntins Melodie und Gunnarsdóttirs Stimme eins mit Island
und der mystischen Inselwelt.
Ihre Magie ist allgegenwärtig, und je mehr wir über das
Land, seine Kultur und seine Eigenheiten erfahren, umso größer
werden auch seine Geheimnisse. Denn Gerður Gunnarsdóttir
und Claudio Puntion zerstören diesen eigenartigen Zauber nicht,
dem die Musikwelt seit Björk, Sigur Rós und Múm
verfallen ist. Vielmehr beschwören sie den Zauber, und das, wie
ein faszinierter Kritiker der Westdeutschen Zeitung festhielt, mit
"bezwingender Wirkung".
©
Michael Frost, 21. Juli 2003