Den
"Eurovision Song Contest" konnte sie 1991 nicht gewinnen.
Dulce Pontes wurde "nur" Achte, aber ihr Auftritt reichte,
um die Aufmerksamkeit der internationalen Musikmedien auf sich zu lenken.
Die junge Portugiesin (geb. 1969) veröffentlichte seither mehrere
Alben, die nicht nur in Portugal, sondern in vielen anderen europäischen
Ländern erschienen und sie zu einer der profiliertesten Sängerinnen
ihres Landes machten.
Es
ist im wesentlichen auch ihr Werk, dass der Fado, dieser eigentümliche
und sehr melancholische "Blues von Lissabon" seit einigen
Jahren zu neuen Ehren gelangen konnte. Dulce Pontes verwebt traditionelle
Fado-Strukturen mit modernen Arrangements, klassische Arien und die
Folklore des Alentejo, und auf keinem Album gelang ihr diese Melange
so überzeugend und charakteristisch wie auf "O primeiro
canto", ihrem 1999er Album, dem bislang aufgrund einer "Familienpause"
leider keine weiteren folgten.
"O
primeiro canto" folgt erklärtermaßen den Wurzeln der
Musik. Fado ist zwar der rote Faden des Albums, doch um ihn herum
gruppieren sich Stimmen aus Klassik und Moderne, Instrumente allen
Himmelsrichtungen zwischen schwedischer Hornpipe und der "Valiha",
einer Harfe aus Madagaskar.
Dulce
Pontes, die einen Großteil der Lieder und Texte selbst schrieb,
wird von zahlreichen prominenten Mitstreitern unterstützt. Jaques
Morelenbaum ist als Cellist und Arrangeur der Streicher beteiligt,
man hört den Percussion-Spezialisten Trilok Gurtu ebenso wie
die portugiesische Jazz-Sängerin Maria João, die italienische
Sopranistin Gemma Bertagnolli oder Waldemar Bastos, einen der erfolgreichsten
Sänger Angolas.
"O
primeiro canto" ist in vier thematische Abschnitte unterteilt.
Jeder Teil symbolisiert eines der vier Elemente Feuer, Luft, Erde
und Wasser und verdeutlicht damit den Anspruch Dulce Pontes, mit ihrem
Album den Ursprung der Musik zu erkunden. Auf elektronische Instrumente
wird deshalb verzichtet, alle Klänge sind betont "reinen"
Ursprungs, und dies gilt in besonderer Weise auch für die Stimme
von Dulce Pontes, die eine kräftige, helle, leuchtende Klangfarbe
besitzt, weniger entrückt als etwa die engelsgleiche Madredeus-Sängerin
Teresa Salgueiro, robust und real.
Man
mag das Konzept von "O primeiro canto" für überfrachtet
oder esoterisch halten; die Musik ist es nicht. Und auch wenn Dulce
Pontes mit diesem Album naturgemäß nicht den Beginn aller
Musik ergründen konnte, so ist sie doch hör- und fühlbar
ihrer eigenen, ganz individuellen musikalischen Quelle und Inspiration
sehr nahe gekommen. Mehr kann eine Musikerin wahrscheinlich gar nicht
erreichen oder erwarten. Jedenfalls ist Dulce Pontes mit dieser Annäherung
an die eigenen Wurzeln schon sehr viel weiter, als andere jemals zu
kommen in der Lage sind.
Michael
Frost, 01. August 2002