Auf
dem Albumcover gibt sie sich wie eine verstoßene Schwester von
Marilyn Manson, doch hinter der provokanten Schminke verbirgt sich eine
vergleichsweise harmlose Seele mit großer Zukunft: Jenny Wilson,
deren Solo-Debüt mit dem schmachtenden Titel "Love and Youth"
zu einem der interessantesten Musikexporte der an Highlights nicht eben
armen schwedischen Musikszene avanciert.
Ungemein
wandlungsfähig ist die an der schwedischen Südküste
aufgewachsene Sängerin. Auf ihrer Website präsentiert sie
sich mal im wallenden Ballkleid, mal im strengen Ornat, und auf der
Rückseite von "Love and Youth" sieht man sie mit blutenden
Nase - vielleicht ein Symbol für die Blessuren vergangener oder
gegenwärtiger Adoleszenzkonflikte. Den 'tatsächlichen' Grund
verrät sie in "Summertime - the roughest time": "My
nose is bleeding from rubbing it into books ... I'm working hard on
an intellectual look ..."
Niemand
würde das abstreiten. Jenny Wilson wollte ursprünglich Schriftstellerin
werden. Sie besuchte Literaturkurse in Malmö, doch als sie erstmals
die Musik von P.J. Harvey hörte, "stand meine Welt Kopf".
Also begann sie ihre Texte zu vertonen: "So I made songs,
taped 'em on my machine, sent cassettes to a record company ..."
So erzählt Jenny Wilson im Song "Bitter? No, I just love
to complain". Ihren Songs fehle der Refrain, sei ihr dort ablehnend
beschieden worden, verbunden mit dem untauglichen Rat: "Swing
and sway, be colorful and sweet - or you just waste my time".
Also
habe sie erstmal Flure gefeudelt und Hotelbetten gewischt, während
sie ihre Songs in ihrem Kopf bewahrte - und auf den richtigen Augenblick
hoffte. Süß sein und Refrains trällern, das jedenfalls
ist ihre Sache nicht: "Don't care about what people say //
don't think about the consequences - just think about yourself".
Nach
zwei Alben mit ihrer darauf hin gegründeten Band "First
floor" folgt nun das erste Soloalbum. Von ihrem Idol P.J. Harvey
hat sich Jenny Wilson deutlich emanzipiert. Ihrem Ziel, einen individuellen
Ausdruck, eine "eigene Sprache" zu finden, ist sie dabei
schon fast beängstigend nahe gekommen. Zwar erkennt man ihre
Verwandtschaft zum Elektropop des Gespanns Roisin Murphy/Matthew Herbert
oder dem Jazz der Dänin Susi Hyldgaard, doch im Gegensatz zum
oft kühlen Sound ihrer Kolleginnen hat ihre "Sprache"
immer etwas Verspieltes, Schräges, Überdrehtes, manchmal
auch Chansonesques, das an das legendäre französische Elektro-Punk-Pop
Duo Les Rita Mitsouko erinnert.
Wie
Catherine Ringer, die Rita-Mitsouko-Sängerin, verfügt auch
Jenny Wilson über die Fähigkeit, die Stimme wie ein Instrument
zu modulieren. In "Those winters" zeigt sie sich introvertiert
und schüchtern mit leiser Stimme und dunklem Hintergrund, doch
bereits der Albumopener "Crazy summer" präsentiert
eine ganz andere Jenny Wison: fröhlich, ausgelassen, selbstbewusst.
Sie
habe mehr Filme verschlafen als gesehen, bekennt sie an anderer Stelle,
und vermutlich lässt sich diese Aussage auch auf die Musik übertragen.
Die macht sie nun deshalb also lieber selbst. Zu unser aller Glück.
©
Michael Frost, 12.03.2006