Frauen,
die sich im Musikbusiness nicht auf die Rolle des blonden Popsternchens,
der Lolita oder einer singenden Barbiepuppe reduzieren lassen, gelten
schnell als schwierig, launisch oder exzentrisch. Wo Veröffentlichungen
von männlichen Kollegen als "Konzept-Album" gefeiert
werden, hält man die Alben kluger Frauen vielfach für verkopft,
verschroben oder gar verwirrt. Besonders deutlich wird dies im Falle
von Tori Amos. Selbst ihren eigenen Plattenbossen galt sie zunächst
als dermaßen schwierig, dass man die junge Amerikanerin samt Debüt-Album
erstmal nach England schickte. In Europa, so die an sich schmeichelhafte
Marktanalyse, sei man offener für schräge Frauen.
Und
so kam das europäische Publikum - nach dem ersten Achtungserfolg
ihrer CD "Little Earthquakes" - schließlich in den
Genuss des "Cornflake Girl" Tori Amos und ihrer knisternden
erotischen Beziehung mit einem Bösendorfer-Flügel. Vergleichbares
hatte man nach dem Rückzug von Kate Bush nicht mehr zu hören
bekommen: Prachtvolle Melodiebögen, femininer, sinnlicher Gesang,
in dem sowohl Leiden als auch Leidenschaft zur Geltung kommen, eruptiv
und mit tiefen Einblicken in überschäumende Gefühlswelten.
Die
kompromisslose künstlerische Haltung, die Tori Amos in ihrer
Musik ausdrückt, spaltet die Zuhörerschaft mit jedem neuen
Album in kategorische Gegner und bedingungslose Verehrer. Tatsächlich
lässt ihre Musik niemanden kalt oder gleichgültig, und das
ist vielleicht das größte Lob, das einem Künstler
überhaupt zuteil werden kann.
Obwohl
sie durchaus immer wieder auch mit eingängigen Songs aufwartete
(z.B. "Hey Jupiter", "A sorta fairytale", "1000
oceans") blieb "Cornflake Girl" ihr einziger veritabler
Charthit, doch ihre Alben erzielten ungeahnte Absatzerfolge, allen
Bedenken zum Trotz vor allem in den USA, wo vier ihrer Alben, nämlich
"Under the pink", "Boys for Pele", "From
the Choirgirl Hotel" und "To Venus and back" Platin-Status
erreichten. Vor allem auf die Songs dieser Alben baut auch ihre aktuelle
Veröffentlichung "Tales of a Librarian - A Tori Amos Collection"
auf.
Für
diesen Rückblick auf ihre zehnjährige Karriere kategorisierte
Tori Amos zwanzig Titel nach strengen Bibliothekskriterien. So findet
man einige ihrer bedeutendsten Lieder in akribischer Ordnung wieder:
"Jackie's Strength" in der Rubrik "History of North
America/United States History/Early 1960's", "Baker Baker"
dagegen unter "Home and Family Management/Food and Drink"
usw. Die Sammlung, die Tori Amos für dieses Album zusammentrug,
folgt erwartungsgemäß nicht gängigen Regeln für
"Best-of"-Compilations. Es ist vielmehr ein persönliches
Schatzkästchen, so wie Björk es 2002 mit ihrer "Family
Tree"-Box zusammenstellte. Fans werden den einen oder anderen
lieb gewonnenen Titel vermissen, aber Tori Amos ist es zweifellos
gelungen, den roten Faden ihrer Arbeit deutlich werden zu lassen,
und der besteht vor allem aus sehr persönlichen, teils intimen
und nachdenklichen Texten.
Viele
ihrer Titel mixte sie für die Veröffentlichung neu ab, und
daneben enthält "Tales of a Librarian" auch einige
"B-Seiten" früherer Singles ("Mary", "Sweet
Dreams") sowie eine Bonus DVD mit Aufnahmen, die während
ihrer Nordamerika-Tour im Sommer 2003 gedreht wurden.
Zwangsläufig
mussten bei dem Thema der Zusammenstellung ihre wohl wichtigsten Alben
außen vor bleiben. Auf dem Konzeptalbum "Strange little
girls" (2001) hatte sie ein Dutzend Coverversionen präsentiert.
Alle Titel stammten im Original von Männern, und Tori Amos betrachtete
deren Texte explizit aus weiblicher Sicht. So legte sie u.a. mit ihrer
Adaption von Enimens "97 Bonnie & Clyde" die rohe Gewaltverherrlichung
des umstrittenen Rappers offen - besser und deutlicher als jede wissenschaftliche
oder journalistische Abhandlung.
"Scarlet's
Walk" (2002) wiederum ist die Reise einer Frau durch die US-amerikanische
Gegenwart, die auf ihrem Trip durch die Staaten den Befindlichkeiten
eines Landes und seiner Bewohner nachspürt. Auch "Scarlet's
Walk" war ein Konzeptalbum, aus dem sich für die aktuelle
Compilaition keine einzelnen Stücke heraustrennen ließen.
Das Thema ist dennoch gleichwohl auch auf "Tales of a Librarian"
vertreten. "Angels" ist ein neuer Song, den Tori Amos in
der Kategorie "Political Science/The Political Process"
vorstellt. "Die USA befinden sich heute an einem Scheideweg",
sagt sie und vergleicht die Situation mit dem Kalten Krieg der 60er
Jahre zur Zeit ihrer Geburt. Inzwischen lebt sie überwiegend
in England, doch umso nachdenklicher wird sie bei Besuchen und Tourneen
in ihrer alten Heimat, der neuen Welt. Tori Amos: "Als Amerikaner
müssen wir auch die Schatten zur Kenntnis nehmen, die wir werfen."
Schon
einfache Wahrheiten wie diese reichen, um als unbequem zu gelten.
Doch Tori Amos zeigt glücklicherweise keine Ermüdungserscheinungen.
Im Gegenteil: Immer wieder hat ihre Wandlungsfähigkeit unter
Beweis gestellt. Und so ist ihre aktuelle Retrospektive sicher nur
eine Zwischenetappe, der hoffentlich weitere unbequeme, verschrobene
und verkopfte Alben folgen.
©
Michael Frost, 1. Dezember 2003