Was
ist eigentlich das Faszinierende an elektronischer Musik ? Warum reizt
es Musiker, toten und seelenlosen Gegenständen Töne, Tonfolgen
und ganze Kompositionen zu entlocken ? Und warum reizt es das Publikum,
sich die Ergebnisse dieser technischen Studiofrickelei anzuhören
?
Vielleicht
ist es gerade der besondere Reiz, einem an sich völlig unmusikalischen
Gegenstand Harmonie und Rhythmus zu entlocken: wie beim Blasen auf
dem Kamm, der singenden Säge und anderen Alltagsgegenständen
? Andererseits bietet die aktuelle Computertechnik Möglichkeiten,
die traditionelle Musikinstrumente nicht leisten, sie verändern
also unser Empfinden und erzeugen Klänge, die in dieser Form
nie zuvor zu hören waren.
Auch
Nobukazu Takemura, ein emsiger Soundtüftler aus dem japanischen
Kyoto, gehört zu diesen Pionieren neuer Tonkunst. Er belässt
es jedoch nicht allein bei der Arbeit am Computer, sondern integriert
auch akustische Instrumente und Gesang, allerdings nicht in ihrer
traditionellen und bekannten Form, sondern aufgrund der scharfen Konstrastierung
mit Computersounds und verfremdeten Gesang in ihrer Herkunft kaum
noch zu erkennbar.
Der
"Vocoder", mit die Stimme nach Belieben gefiltert und digitalisiert
werden kann, hat spätestens seit Madonnas Album "Ray of
Light" Eingang in den Mainstream gefunden, doch Takemura geht
noch weiter. Auf seinem aktuellen Album "10th" arbeitet
er mit einem Gerät, dessen Technologie entwickelt wurde, um Körperbehinderten
mit Sprachstörungen die Kommunikation zu erleichtern. "Takemura",
heißt es im Pressetext, "bringt diese Technologie zum Singen".
Welche inhaltliche Bedeutung der Gesang jedoch hat, bleibt offen.
Das Beiheft verzichtet auf den Abdruck der Texte, was schade ist,
weil diese Maßnahme das Verständnis der Musik gefördert
hätte, aber vielleicht geht es Takemura ausschließlich
um die lautmalerische Wirkung der Sprache.
Und
so fusionieren bei Nobukazu Takemura akustische und elektronische
Elemente zu einer widersprüchlichen und gegenläufigen Einheit,
die sich in einem Zustand permanenter Spannung befindet. "10th"
ist ungemein abwechslungsreich, temporeich und rhythmisch, dann verspielt
und verschroben, manchmal auch unterkühlt und desperat.
Es gibt Parallelen zur europäischen Electronica-Szene von Opiate
bis zu einzelnen Radiohead-Titeln, aber mehr als gelegentliche Schnittmengen
sind diese Gemeinsamkeiten nicht: Takemuras Visionen sind seine eigenen.
©
Michael Frost, 08. April 2003