Manchmal
sieht man den Wald vor lauter Bäumen nicht. So könnte die
sinnbildliche Übertragung eines Spruchs lauten, den Barbara Morgenstern
ursprünglich als Albumtitel verwenden wollte: "You see more
of the mountain from further away".
Ähnlich
verhält es sich mit ihrer Musik. Der erste unmittelbare Eindruck
rückt ihren zart-einfühlsamen Gesang vor dem Hintergrund
leichten Elektro-Geflimmers in die Nähe des teilweise recht banalen
Süßholzraspel-Pop von Paula oder Rosenstolz.
Erst
aus der Distanz erkennt man die ganze Größe ihres Albums,
die intelligent verschachtelteten Arrangements, die versonnenen Textpassagen,
die Verknüpfung von akustischen und digitalen Klangstrukturen,
die innere Dynamik. Nun ist hiermit nicht so sehr räumliche Distanz
gemeint, sondern die Tatsache, dass die Lieder im Unbewussten weiter
arbeiten. Woran man das merkt ? Zum Beispiel daran, dass man das Album
mehrmals hintereinander durchlaufen lässt, ohne genau sagen zu
können warum: Es klingt einfach gut.
Erst
mit der Zeit wird man sich der Komplexität des Albums bewusst,
auch wenn Barbara Morgenstern selbst so tut, als würde ihr die
Arbeit wie von selbst von der Hand gehen. So sagt sie über den
Opener "Aus heiterem Himmel": "War am Anfang ein reines
Klavierstück. Das klang mir aber zu bluesig und so - schnipp
schnapp - wurde das Klavier eben kaputtgeschnitten."
Doch
so einfach "schnipp schnapp" wird "Nichts muss"
nicht entstanden sein. Die Kunst des Albums besteht allerdings darin,
dass es so klingt als ob:
Als ob die Lieder und Texte einfach so heraussprudeln, in dieser Leichtigkeit
und Selbstverständlichkeit, dem vorsichtigen Optimismus, mit
der es uns aus dem Lautsprecher entgegenschallt.
Durchaus
beeindruckend ist auch ihre Vielfalt. Barbara Morgenstern ist nicht
nur eine "technoide Chansonniere" (Pressetext), sondern
auch eine detailverliebte Klangkünstlerin, die mit dem Computer
allerlei bizarre Soundgebilde zusammenfrickelt und dabei auf Gesang
verzichtet. Ausgerechnet das Lied mit dem romantisch anmutenden Titel
"Merci (dass es dich gibt)" entpuppt sich als verschroben
flimmerndes Electronica-Kabinettstück: "Das kann man ja
je nachdem auf wen man gerade möchte anwenden", lautet ihr
laxer Kommentar.
Aus
der Entfernung erschließt sich also der ganze Berg und wir erkennen:
Harmonischer Gesang und die kühle Digitalität des Electronica-Sounds
müssen kein Widerspruch sein. In ihrer Musik hebt Barbara Morgenstern
die Gegensätzlichkeit der Elemente sogar auf. "Nichts muss",
scheint sie zu sagen - aber "alles kann".
©
Michael Frost, 01.03.2003