Folk,
verstanden als "zeitgenössische Variante der Volksmusik"
(wikipedia, Stand: 21.10.07) hat seine Wurzeln in der angloamerikanischen
Kultur. Doch was ist "zeitgenössisch"? Wie kann - in
einer globalisierten Welt - eine bestimmte Gruppe ihre kulturelle Tradition
überhaupt noch aufrecht erhalten, und falls ja, zu welchem Zweck?
Und wie sollte Folk in der urbanen, multikulturellen und interdependenten
Gesellschaft beispielsweise Großbritanniens zu Beginn des 21.
Jahrhunderts klingen?
Simon
Emmerson hat sich diese Frage gestellt und versucht, auf seinem Album
"The imagined village" eine Antwort zu finden. Der Titel
klingt bereits nach einer Anlehnung an das Schlagwort vom "globalen
Dorf", und als solches entwirft der Musikproduzent auch sein
musikalisches Konzept, das seinen Ausgangspunkt einerseits in den
überlieferten Traditionals nimmt - sie bilden die Grundlage der
meisten Songs -, andererseits Musikstile fusioniert, die in diesem
Umfeld in aller Regel nicht zu hören sind.
Emmerson
selbst stammt aus der Post-Punk-Ära der 80er Jahre, doch ebenso
ist er in der Clubszene Londons und ihren Beats aus Acid Jazz, Drums&Bass,
Triphop und Hiphop zuhause. Er gehörte später zu den Gründungsmitgliedern
des Afro Celt Sound System, einem Bandprojekt, dass afrikanische und
britisch/irische Folklore zueinander brachte und dafür diverse
Gastsänger (u.a. Sinéad O'Connor) verpflichten konnte.
Auch
"The imagined village" wird durch zahlreiche prominente
Gäste belebt, die ihren jeweiligen persönlichen Stil in
die Musik einfließen lassen. Sheila Chandra etwa, deren Eltern
aus Indien stammen. Sie selbst wurde in London geboren und nahm beide
Kulturen in ihrer Musik auf. Heute gehört sie zu den erfolgreichsten
Mitgliedern der "Real World"-Familie, dem Label, das Peter
Gabriel einst gründete, um Musikern aus aller Welt die Möglichkeit
zur Veröffentlichung ihrer Musik zu geben.
Billy
Bragg hingegen ist als Liedermacher, neudeutsch: Songwriter, eine
Institution. Der überzeugte Sozialist ist ein Vertreter linker
Volkskultur, die sich gegen die Vereinnahmung der Tradition durch
"Royalisten und Imperialisten" wehrt.
Gemeinsam
mit Paul Weller, dem legendären "The Jam"-Sänger
und Gitarristen machten sich Emmerson, Chandra, Bragg und weitere
Beteiligte, so Martin und Eliza Carthy, an die Arbeit. Das Soundgerüst
lieferten Trans-Global Underground, die Band, die an der Seite von
Natacha Atlas berühmt wurde. Ihr dunkler, drängender Sound
aus Dub, Triphop, Electronica und Drums&Bass bildet die Grundlage
für traditionelle Folksongs, Shanties und eigene Kompositionen
der vielseitigen Musikerschar.
Keltische,
orientalische, afrikanische und indische Klänge fusionieren mit
dem Clubsound westlicher Metropolen, gleichberechtigt, selbstverständlich,
elektrisierend. Die ganze Vielfalt unserer Städte findet sich
in diesem "imagined village" wieder. Doch die Musik beschönigt
und verharmlost nicht, die bügelt die Ecken nicht glatt, sie
ebnet nichts ein. Im Gegenteil: gerade aus den widersprüchlichen
Zutaten entsteht der Reiz dieser Musik, gerade das Unvorhersehbare
steigert die Spannung und hält sie - durchgängig auf hohem
Niveau.
Funktionieren
kann dieses Konzept nur im Miteinander der beteiligten Musiker. Bestünde
jeder auf seinem ursprünglichen Standpunkt, bliebe es beim zusammenhangslosen
Nebeneinander: "The imagined village" wäre ebenso zum
Scheitern verurteilt wie eine Gesellschaft, deren parallel existierende
Gruppen ohne Kontakt und Austausch zu- bzw. miteinander leben. So
wirkt "The imagined village" nicht nur in musikalischer
Hinsicht stilbildend, sondern überzeugt auch als Entwurf einer
zeitgenössischen Gesellschaft - den Fundamentalisten aller Kulturen
zum Gräuel.
©
Michael Frost, 00.00.2004