Seit
jemand sie gefragt hat, ob sie Enya sei, so sagt Sinéad O'Connor,
trage sie die Haare wieder kurz. Dennoch sieht sie gelöster und
fröhlicher aus als zu Zeiten ihrer frühen Alben "The
lion and the cobra" und "I haven't found what I was looking
for".
Auf
dem Cover von "Sean-Nós Nua", ihrer neuen CD, lächelt
sie dem Betrachter aus einem satt grünen Biogarten sogar fröhlich
entspannt entgegen. Offenbar hat Sinéad O'Connor nun doch endlich
gefunden, wonach sie schon so lange sucht. Viele Umwege hat sie genommen,
Lebens- und künstlerische Krisen bewältigt, doch nun ist
sie, so klingt es, wenigstens in musikalischer Hinsicht am Ziel.
Schon
die EP "Gospel Oak", auf der sie 1997 sechs überwiegend
selbst geschriebene Kinderlieder präsentierte, deren zauberhafte
Melodien und Arrangements sich an irischen Traditionals orientierten,
ließ das Potenzial von Sinéad O'Connor in Bezug auf die
musikalischen Wurzeln ihrer Heimat erahnen.
Mit
"Sean-Nós Nua" (engl. "Old style new")
hat sie nun wie aus dem Nichts ein ganzes Album mit alten irischen
Volksliedern veröffentlicht, und wohl selten zuvor dürften
die Facetten ihrer Stimme so eindrucksvoll zur Geltung gekommen sein.
Ob sinnlich und melancholisch oder heiter und schwungvoll, Sinéad
O'Connor findet fast immer den richtigen Ton zur Interpretation (den
gelegentlich Hang zur Pathetik mag man ihr nachsehen), und gemeinsam
mit ihren Co-Produzenten Donal Lunny, Alan Branch und Adrian Sherwood
(u.a. The Cure, Nine Inch Nails) ist es ihr gelungen, die alten Lieder
mit aller Behutsamkeit in moderne Gewänder zu hüllen.
Sinéad
O'Connor ist aber weiterhin keine Interpretin irischer Volksweisen
im klassischen Sinne. Vielmehr setzt sie ihre Grenzgänge zwischen
Folk und Pop fort, also das Metier, in dem schon immer ihre besondere
Stärke lag. Entsprechend realisiert sie auch die alten Lieder,
hält sich überwiegend an die klassischen Instrumentierungen
wie Geige (Steve Wickham von den Waterboys und Cora Venua Lunny),
Akkordeon (Sharon Shannon), Flöte (Rob O'Gheibheannaigh) und
Gitarre (Donal Lunny), webt aber hier und dort dezente elektronische
Keyboard-Verstärkung in die Sounds ein, wodurch sie die teils
berückende Stimmung der Lieder nochmals verstärken kann.
Endlich
gelingen sie ihr wieder, die magischen Momente, in denen sie mit sanft
flüsternder und makelloser Stimme das Herz wärmt und traurige
Geschichten erzählt wie die von Molly Malone, Dublins legendärer
Fischverkäuferin, die tragisch im Feuer ums Leben kam und seither
als Geist mit ihrem Karren rufend durch die Straßen zieht: "Crying
cockles and mussels alive a-live O!", oder die Klage des
Mannes, der von Irland voller Hoffnung nach Amerika floh, um dort
als Soldat im Bürgerkrieg verheizt zu werden:
"To
America I'll have ye's not be going
There is nothing here but war, where the murderin' cannons roar
And I wish I was at home in dear old Dublin ..." (Paddy's
Lament)
In
diesen Momenten, so spürt man, kehrt auch Sinéad O'Connor
in ihre Heimat zurück.
©
Michael Frost, 12.10.2002