Mal
ehrlich: Würden Sie sich eine CD oder DVD von Christina Weiss,
der Staatsministerin für Kultur, kaufen? Wohl eher nicht. Darin
besteht also schon mal der erste Unterschied zwischen Deutschland und
Brasilien. Brasilien hat nämlich einen Kultusminister, der Massen
in einer Größenordnung anzieht, von der wohl jeder andere
Politiker nur träumen kann: Gilberto Gil.
Minister
Gil kann es sich sogar leisten, seine DVDs mit Bonusmaterial auszustatten,
das ihn bei einem Auftritt vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen
zeigt. Wo andere steife Reden halten und den Weltfrieden beschwören,
greift Gilberto Gil zur Gitarre und animiert seine Zuhörer zum
Mitsummen: "All together, stronger!" Und seine Glaubwürdigkeit
scheint über jeden Zweifel erhaben, wenn er mit einer beeindruckenden,
portugiesisch gesungenen Version von "No woman, no cry"
einem der wohl bedeutendsten Musiker Amerikas seine Referenz erweist:
Bob Marley.
Angesichts
der Exklusivität der Aufnahmen gerät das Bonus-Material
fast in den Mittelpunkt des Interesses. Doch in der Hauptsache dokumentiert
"Electracústico" einen Zusammenschnitt dreier Konzert,
die Gil im September 2004 in Rio de Janeiro gab. Neunzehn Songs enthält
der temperamentvolle Mitschnitt, der den charismatischen Altmeister
der Tropicalia-Bewegung in Bestform zeigt. In seinen Songs, die er
mal auf Portugiesisch, dann auf Spanisch, Französisch und auch
auf Englisch singt, spiegelt er die wechselvolle Geschichte der beiden
Amerikas, die sozialen Gegensätze, aber auch die Vielfalt der
Menschen und den Reichtum ihrer Kulturen.
Dabei
bekennt sich Gil seit jeher zu seinen afrikanischen Wurzeln: Mit vielen
anderen Brasilianern teilen auch Gils Vorfahren das Schicksal, von
den früheren Kolonialherren als Sklaven nach Südamerika
verschleppt worden zu sein. So spürt er in seiner Musik immer
wieder den unterschiedlichen Traditionen der Bevölkerung Lateinamerikas
nach, verbindet Samba und Bossa Nova, Tango, Rock, Pop und Reggae.
Die
permanente Erneuerung, die seine Musik auszeichnet, macht Gils Stellenwert
in Brasilien, aber auch auf internationalem Terrain aus. Folgerichtig
erhält er in diesem Jahr den von ABBA-Manager Stig Anderson gestifteten
Musik-Nobelpreis, den "Polar Music Prize" der Königlich
Schwedischen Akademie für Musik, der seit 1992 jährlich
für herausragende musikalische Leistungen vergeben wird. Gil
steht damit auf einer Stufe mit Paul McCartney, Ray Charles, Dizzy
Gillespie, Stevie Wonder und Bob Dylan - allesamt Preisträger
der letzten Jahre.
Und
auch, wenn man angesichts der großen sozialen, ökonomischen
und ökologischen Probleme des Landes konstatieren muss, dass
auch die Brasilianer momentan nicht viel zu lachen haben: Bei Auftritten
von Politikern wie Gilberto Gil gibt es wenigstens Anlass zum Tanzen.
©
Michael Frost, 14.05.2005