Wenn
ein Label eine Compilation veröffentlicht, auf der sich ausschließlich
Songs von Bands und Interpreten mit Vertrag im eigenen Hause befinden,
dann riecht das nach Werbung in eigener Sache, einseitiger Recherche,
schlimmstenfalls nach Abzocke. So kann es sein, muss es aber nicht.
Etwas
völlig anderes ist nämlich "Branches and Routes",
die Doppel-CD-Compilation des britischen Labels "Fat Cat".
Auf den beiden CDs gerät die Präsentation einzelner Acts
des Bandrepertoires fast zur Nebensache. Umso offensichtlicher werden
dagegen in der Gesamtheit der Beiträge die Verzweigungen musikalischer
Experimente auf der Suche nach einem Weg in die Zukunft.
Es
gibt Electronica in allen Facetten: instrumental und rhythmisch mit
"Mice Parade", verschroben und finster mit "Stromba",
episch mit "Set Fire to Flames", minimalistisch heiter mit
"Seen" oder nervensägend mit "Xinlisupreme",
abstrakt mit "fennesz" oder robust mit "Drowsy",
die sphärischen "Transient Waves" - oder substanziell,
auf der Suche nach dem "Ur-Klang" ("The Dylan Group").
Und
immer ganz vorn mit dabei: die "Island Connection", vertreten
durch die sympathischen Lautmaler Múm, den sägenden Sound
von Sigur Rós und - na, wer wohl ? - Björk. Aus dem Label,
bei dem die Isländerin ihre Alben veröffentlicht (One Little
Indian), ging auch Fat Cat als eigenständige Plattenfirma hervor.
Dort sind die deutschen Soundbastler Funkstörung unter Vertrag,
und die haben zu Björks "All is full of Love" einen
phantastischen Remix abgeliefert, der auf "Branches and Routes"
selbstverständlich auch enthalten ist.
Zur
Umgebung der isländischen Ausnahmekünstlerin gehört
mittlerweile auch das aus San Francisco kommende Electro-Duo Matmos
in Verbindung, waren sie doch gemeinsam mit ihr auf großer "Vespertine"-Welttournee.
Auch sie stammen aus dem "Fat Cat"-Stall und haben dort
ihre eigenen Projekte veröffentlicht.
Dass
Pioniere wie Matmos oder Funkstörung international auf so große
Aufmerksamkeit stoßen konnten, ist das Verdienst des kleinen
Labels, das seit nunmehr sechs Jahren immer neuen Sounds zwischen
Electronica, Post-Rock, Downbeat und minimalistischen Techno-Variationen
eine Heimat bietet.
Entwickelt
hat sich Fat Cat aus einem Plattenladen in London, der sich auf Electronica
spezialisiert hatte. Prinzipiell werden keine Unterschiede zwischen
unbekannten Nachwuchsmusikern und namhaften Produzenten gemacht. Bei
Fat Cat stehen sie gleichberechtigt nebeneinander, und man folgt,
so die hauseigene Philosphie, vor allem den Grundsätzen "Enthusiasmus,
Integrität, Ehrlichkeit, Unterstützung und Respekt".
Die
Offenheit des Labels garantiert ein Höchstmaß an Motivation
der Künstler, die ihre Arbeiten bei diesem Label veröffentlichen.
Dem Sampler "Branches and Routes" ist diese unverfälschte
Kreativität anzuhören. Alle Beteiligten verbinden mit ihren
Kompositionen und Konstruktionen Visionen von der Weiterentwicklung
der Musik.
Beispielsweise
durch Björk, Massive Attack und Radiohead konnten diese Strömungen
bereits ein großes Publikum erreichen, doch sie sind nur die
Spitze eines Eisbergs, dessen wahre Größe auch in diesem
Fall nur unter der Oberfläche feststellbar ist. Aber der Tauchgang
zu den "Branches & Routes" lohnt sich - es ist eine
Entdeckungsreise in unerforschtes Gebiet.
Wie
die Bilder einer Ausstellung eröffnen die siebenzwanzig Titel
des Samplers einen umfassenden Einblick in das gesamte Spektrum elektronischer
Musik. Dabei gelang den Machern das seltene Kunststück, das Material
- obgleich überwiegend bereits veröffentlicht - nicht retrospektiv
vorzustellen, sondern als tiefen Einblick in die Zukunft. Denn dort
spielt die Musik.
©
Michael Frost, 28. Juni 2003