Cesaria
Evora erlebt eine einzigartige Karriere. Nachdem sie ihren Lebensunterhalt
seit jeher als Sängerin in den Hafenbars des kapverdischen Orts Mindelo
verdient hatte, wurde ihr Potenzial eines Tages von einem französischen
Musiker entdeckt. Er brachte die "Diva aux pieds nuds" (Die barfüßige
Diva) nach Paris, dort nahm sie ihr erstes Album auf, mit dem sie in
Frankreich auf Anhieb berühmt wurde, später in ganz Europa, und in den
USA, wo sie 1996, 1998, 1999 und 2000 mit ihrem jeweils aktuellen Album
für den Grammy nominiert war. (Es spricht eher gegen die Jury, dass
aus der Nominierung bislang kein Preis wurde). Von ihrem letzten Album
"Café Atlantico" verkaufte sie in Frankreich sensationelle 300.000 Exemplare.
Sie
brachte dem staunenden Rest der Welt die "Morna", eine spezielle kapverdische
Mischung zwischen Chanson, Fado, kreolischer, brasilianischer und
westafrikanischer Folklore, die entstehen konnte, weil die Inselgruppe
ein wichtiger Zwischenstopp für den Schiffsverkehr zwischen Europa,
Westafrika und Amerika war - vor allem zwischen Portugal und der ehemaligen
Kolonie Brasilien.
Wer
nun annimmt, das Repertoire der Cesaria Evora habe sich möglicherweise
in den ersten zwei, drei Alben erschöpft, der irrt gewaltig. Gemeinsam
mit ihren Musikern und Produzenten hat sie es verstanden, die Bandbreite
ihrer Musik während ihrer Reisen, Tourneen und Kontakte zu Musikern
überall in der Welt zu ergänzen. Wirklich entfernt von ihrer Heimat
hat sie sich dabei allerdings nicht. Im Gegenteil: Je weiter sie reist,
umso näher kommt ihren Wurzeln.
"São
Vicente di Longe" (übersetzt "São Vicente" - die Insel, auf der Cesaria
geboren wurde - "aus der Entfernung") wurde hauptsächlich in Havanna
und Rio de Janeiro, jeweils mit ortsansässigen Musikern, aufgenommen.
Das Album unterstreicht im Unterschied zu manchen früheren Aufnahmen
der Evora, auf denen ein stärkerer portugiesischer Einfluss hörbar
war, nachdrücklich das musikalische "Dreieck" zwischen Brasilien,
Kuba und den Kapverden. Letztlich nähert sie sich der Musik ihrer
Heimat durch die Entdeckung ihrer lateinamerikanischen Einflüsse.
Zum
zweiten Mal nach der Compilation "Red Hot + Rio" arbeitete Cesaria
mit dem brasilianischen Bossanova-Star Caetano Veloso zusammen ("Regresso"),
während sie das durch dessen Schwester Maria Bethania berühmt gewordene
"Negue" mit dem kubanischen Pianisten Chucho Valdés aufnahm. Für "Linda
Mimosa" wiederum verpflichtete sie das hierzulande ebenso nicht ganz
unbekannte kubanische "Orquesta Aragon".
"São
Vicente di Longe" ist vielleicht die bislang ambitionierteste Produktion
Cesaria Evoras, an der insgesamt ein paar Dutzend Musikerinnen und
Musiker beteiligt sind. Die zahlreichen und teilweise opulenten Streichersequenzen
ließ sie von Jaques Morelenbaum arrangieren, der in Brasilien durch
seine Zusammenarbeit mit Antonio Carlos Jobim berühmt wurde.
Die
Titel spannen einen unterhaltsamen und elektrisierenden Bogen zwischen
den Kapverden, Brasilien und Kuba. Ruhige und energetische Rhythmen
wechseln sich auf harmonische Weise ab. Und über allen Melodien liegt
die warme, herzliche und leichte, aber immer etwas melancholische
Stimme von Cesaria Evora, die so natürlich klingt, als würde sie ganz
einfach nur so vor sich hersingen, während sie an einem menschenleeren
Strand spazieren geht und Gedanken verloren auf den Ozean sieht ...
Inzwischen
wurde "São Vicente di Longe" in einer Sonder-Edition mit zwei Bonus-Titeln
neu veröffentlicht: "Lagrimas negras" mit dem Buena
Vista Social Club - Star Compay Segundo und "Crepuscular solidão"
mit Bonnie Raitt. Die Sonderausgabe präsentiert sich in liebevoll
aufgemachtem Buchformat, beinhaltet viele Fotos und Textübersetzungen
(engl./frz.).
Vielleicht
liegt in solchen kunstvollen Fan- und Sammler-Ausgaben die eigentliche
Antwort gegen die viel beklagte "Schwarzbrennerei": Wenn
nämlich die CD wie im vorliegenden Fall als Kulturgut und weniger
als Konsumartikel präsentiert wird. Sinn macht das natürlich
nur bei wirklichen Künstlern - aber zu denen gehört Cesaria
Evora allemal.
Michael
Frost / 14.04.2001
Update: 07.01.2002