"I
want to live with my angel and live shockingly". Melissa Etheridge
kommt auf direktem Wege zum Wesentlichen. Das Zitat aus dem Titeltrack
ihres neuen Albums "Lucky" weist bereits darauf hin, dass
sie zu vielem bereit ist, aber keinesfalls zur Anpassung.
Sie
gehört noch immer zu den wenigen Künstlerinnen, die sich
öffentlich zu ihrer Homosexualität bekannt haben. Die Offenheit
brachte ihr auf der einen Seite Respekt und Anerkennung ein, aus der
konservativen Ecke jedoch Ablehnung. Das Rockgeschäft gilt als
Männerdomäne, in dem nur wenige Frauen den Durchbruch schaffen,
und für eine lesbische Sängerin ist das Erreichen des Gipfels
nochmal schwieriger.
Melissa
Etheridge hat sich jedoch nie großartig von ihrem Umfeld beeindrucken
lassen. "Shockingly", das war bei ihr nie die kalkulierte
Provokation, sondern immer nur die Reaktion der anderen auf ihren
Lebensstil - und somit deren Problem.
Schließlich
hat Melissa Etheridge immer genau die Musik produziert, die ihrer
jeweiligen Gefühlslage entsprach. Und die könnte angesichts
einer neuen Liebe momentan offenbar kaum besser sein: "Ich habe
meinen Platz im Leben neu gefunden und kann es wieder genießen."
"Lucky"
ist durchaus als programmatische Aussage zu sehen. Die Mehrzahl der
dreizehn neuen Titel sind lebendige Rocksongs, bei denen Melissa Etheridge
gekonnt mit krachenden Gitarren, eingängigen Melodien und ihrer
rauen Rockstimme spielt. Lediglich ein Stück wie die Ballade
"Meet me in the Dark" fällt aus dem Rahmen, allerdings
nur, um Etheridges stimmliche Möglichkeiten zu unterstreichen,
die vor dem elegischen Klangteppich aus Klavier, Bass, leisen Drums
und Cello ein ungeahntes Maß an Zartheit und Verletzbarkeit
erreichen.
"Tuesday
Morning" dagegen beeindruckt vor allem auf der Ebene des Textes:
Melissa Etheridge erzählt darin die Geschichte schwulen Flugpassagiers
Mark Bingham, dem es am 11. September 2001 gemeinsam mit drei weiteren
Fluggästen gelungen war, ihre geknippnapte Maschine auf einem
freien Feld zum Absturz zu bringen und damit eine noch größere
Tragödie zu verhindern. "Some might choose to deny him
// even though he gave his life // Can you live with yourself in the
land of the free // and make him less of a hero than the other three
?", mit diesen Worten legt Melissa Etheridge ihren Finger
in die Wunde aus Tabu und Intoleranz.
Melissa
Etheridge hat für sich nie den Anspruch erhoben, die Rockmusik
neu zu erfinden. Was sie jedoch geschafft hat, ist ein individueller
Ausdruck innerhalb dieses Genres. Damit ist sie vielen ihrer - vor
allem männlichen - Kollegen vielen Meilen voraus. Der Glaubwürdigkeit
ihrer Musik und ihrer Inhalte verdankt sie inzwischen zwei Grammy-Awards
und weltweit 25 Mio. verkaufte Alben. Mit "Lucky" dürften
es durchaus noch ein paar mehr werden.
©
Michael Frost, 07.02.2004