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Giannissima !


Vor allem ihre Stimme (er)kennt jeder. Die ewig heisere, krächzende, um Atem ringende Gianna Nannini, deren Rachen offenbar mit Sandpapier ausgelegt ist, ist in der Musikwelt ziemlich einzigartig. Lediglich ihr großes Vorbild Janis Joplin konnte, denkt man in den Kategorien klassischer Konservatorien, noch weniger singen als sie: "La Nannini", die nicht nur in der italienischen Musikszene ein individuelles Genre begründet hat.

Sie entstammt einer berühmten Familie. Ihrem Vater gehören in ihrem Geburtsort, dem prachtvollen Siena in der Toscana, mehrere noble Konditoreien, die zu den Glanzzeiten von Giannas Karriere von jugendlichen Touristen aus ganz Europa heimgesucht wurden ("Ich war zum Caffè beim Papa von Gianna Nannini ..."). Ihr Bruder Alessandro ist ein bekannter Rennfahrer.

Auch Gianna gefällt es auf der Überholspur. 1974 macht sie ihr Klavier-Diplom am Konservatorium von Lucca, ebenfalls in der Toscana gelegen. Doch ein Unfall, bei dem sie sich die rechte Hand verletzt, macht eine Karriere als Berufspianistin unmöglich. In Mailand, wo sie ein Studium in Komposition und Philosophie beginnt, startet sie auch ihre Gesangskarriere, zunächst in kleineren Off-Clubs, doch schon bald, nämlich 1976, folgte die erste Plattenveröffentlichung, im Jahr darauf die zweite.

1979 bricht Gianna nach Amerika auf, nach Kalifornien, und begibt sich auf die Suche nach den Wurzeln des Rock. Dort entstehen zwei ihrer berühmtesten Lieder, "America" und "California", letzteres der Titelsong ihres dritten Albums. Der endgültige Durchbruch gelingt ihr 1982 mit dem Album "Latin Lover", das sie mit einem spektakulären Auftritt im WDR-"Rockpalast" in der Essener Grugahalle vorstellt. Dieses Konzert wird zum Startschuss für Gianna Nanninis Erfolg auch im deutschsprachigen Raum.

Sie ist fortan eine der ganz wenigen Frauen im Rock-Business, rasant, kraftvoll und Energie geladen, aber auch romantisch und gefühlvoll, und obwohl sie beim oberflächlichen Hinsehen das Gegenteil ausstrahlt, ist sie doch eine Vollblut-Italienerin: selbstbewusst, kämpferisch, emanzipiert, unabhängig - und trotzdem feminin.

1987 macht Gianna Nannini einen Ausflug in ein fremdes Metier und kommt unter der musikalischen Leitung von Eberhard Schoener gemeinsam mit Jack Bruce und Sting zu einem Auftritt nach Hamburg. Ihr gemeinsames Konzert besteht hauptsächlich aus Stücken von Kurt Weill mit Texten von Bertolt Brecht, darunter die bekanntesten Lieder aus der Dreigroschenoper und Mahagonny. Gianna Nannini singt unter anderem "Moon over Alabama", die "Seeräuber-Jenny", sowie gemeinsam mit Sting die "Zuhälter-Ballade" - er auf Deutsch, sie auf Italienisch. Publikum und Kritiker sind gleichermaßen hingerissen von ihrer Darbietung.

Fortan werden ihre Platten Bestseller, sowieso in Italien, aber auch in Deutschland, Österreich und in der Schweiz. Der Rest der Welt lernt sie 1990 kennen, als sie gemeinsam mit Eduardo Bennato die Hymne zur in Italien stattfindenden Fußball-WM singt: "Un' Estate Italiana" (Ein italienischer Sommer). Sie ist auf dem Höhepunkt ihrer Karriere. Ihre Alben "Profumo" "Maschi e altri" und "Malafemmina" werden mit Gold und Platin prämiert, doch Gianna bereitet bereits eine Neuorientierung vor: Sie geht an die Universität und macht einen Abschluss in Philosophie. Der Titel ihrer Doktorarbeit lautet: "Il Corpo nella voce" (Der Körper in der Stimme). Auch ohne Studium wäre sie Expertin für diese Frage gewesen.

Musikalisch hat sie alles erreicht, was es zu erreichen galt. Nun mischt sie sich in die Politik ein: Am 3. Juli 1995 erklimmt sie gemeinsam mit Greenpeace-Aktivisten den Balkon der französischen Botschaft in Rom, um gegen die Wiederaufnahme der Atomtests auf Mururoa durch Präsident Chirac zu protestieren. In der Folge beteiligt sie sich engagiert an verschiedenen Aktionen von Greenpeace in Italien.

"Cuore" von 1998 wird in Italien wieder begeistert aufgenommen. Sie geht auf große Tournee, die sie in der "Milleniums-Nacht", dem 31.12.1999, mit einem Konzert auf der Piazza San Carlo in Turin mit einem Konzert vor 40.000 feiernden Besuchern abschließt.

Doch schon während dieser Tour kündigt Gianna Nannini eine Zäsur an. Im Interview mit der italienischen Tageszeitung "La Repubblica" erklärt sie, der Rock sei ein Klischee geworden, das sie nicht länger interessiere. "Nach der Tour schlage ich eine neue Richtung ein." Welche, lässt sie lange im unklaren, deutlich ist nur die Distanz zur Rockmusik zum Jahrhundertwechsel: "Für mich hat der Rock immer etwas Revolutionäres repräsentiert, aber seit einiger Zeit sehe ich, dass er seine Inhalte verloren hat." Rock repräsentiere zunehmend die Institutionen, sagt Gianna Nannini, und seit Clinton und Blair sogar Regierungen: "Und das gefällt mir nicht."

"Und es würde mir ebenso wenig gefallen, es zu machen wie andere, deren Platten und Konzerte Modelle reproduzieren, die zwanzig Jahre alt sind."

Erst 2001 kehrt sie ins Studio zurück. Der Zeichentrick-Regisseur Enzo d'Alò konnte sie nämlich dafür begeistern, den Soundtrack für seine Version von Michael Endes Erfolgsroman "Momo" zu schreiben (seit Jan. 2002 in den Kinos). Das Buch war bereits einmal 1986 in einer deutsch-italienischen Koproduktion verfilmt worden (u.a. mit Armin Mueller-Stahl, Mario Adorf, Radost Bokel und Musik von Angelo Branduardi).

Gianna Nannini produziert das ganze Album mit Andy Wright, der schon Künstlern wie Simply Red und Annie Lennox auf die Erfolgsspur verhalf. "Aria", der Titelsong des Soundtracks, erscheint auch als Single, in einer italienisch und einer deutsch gesungenen Fassung erscheinen. Den Text für die deutsche Übersetzung liefert Xavier Naidoo.

Anfang Oktober 2002 wird endlich auch in Deutschland ihr neues Album veröffentlicht. "Aria" (nicht zu verwechseln mit dem Momo-Titelsong) ist elektronischer als früher, und lauter. Doch einen Richtungswechsel mag man darin nicht erkennen. Denn auf "Aria" folgen "Perle", Gianna Nanninis größte Erfolge und schönsten Titel, streng akustisch instrumentiert. Besonders grandios: "Ragazzo dell'Europa", nur am Flügel begleitet.

Nun folgt, rechtzeitig zum 30. Geburtstag ihrer ersten Album-Veröffentlichung, "Grazie" - Danke. Ein Dankeschön mit vielen neuen Songs, in denen Gianna Nannini sich von ihrer bekannten und immer wieder begeisternden Seite zeigt. Andere werden mit zunehmendem Alter bedächtig, Gianna Nannini, so scheint es, dreht nochmal richtig auf. Ein Attribut bleibt ihr jedenfalls auf ewig: "Giannissima !"

© Michael Frost/ 14. November 2000
Letztes Update: 15. August 2006

 

Quelle der biographischen Daten: digilander.iol.it/giannanannini
Zitate: "La Repubblica", 13.07.99, zitiert nach www.giannanannini.com

 

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