Die Renaissance der Quetschkommode
Das Akkordeon befreit sich vom Musikantenstadl-Image

Vorbei die Zeiten, als das Akkordeon lediglich noch im Musikantenstadl ein verkanntes Schattendasein fristete: Dank der (Wieder-)Entdeckung weltmusikalischer Einflüsse vom Musettewalzer bis zum Tango Argentino kann das Akkordeon inzwischen als rehabilitiert betrachtet werden. Kultbands wie die Berliner 17 Hippies oder Norwegens Superstars Kaizers Orkestra wären ohne das Instrument nicht dieselben, denn im Akkordeon verschmelzen Pogo und Polka zur Einheit.
Daher ist es wohl kein Zufall, dass sich die Zahl der Neuerscheinungen der Instrumentalmusik, die das Akkordeon in den Mittelpunkt stellen, erkennbar häuft, auch wenn die Musiker selbst oft schon seit Jahren aktiv und in ihrem Genre lange erfolgreich sind.


CATHRIN PFEIFER
& BAND
Aktuelles Album:
Waiting for Valentin
VARIS ONE Records
V1CD 3038-2
next www.cathrin-pfeifer.de


Eine solche Veröffentlichung ist "Waiting for Valentin" der Akkordeonistin Cathrin Pfeifer und ihrer Band (Alexej Wagner/Gitarre, Topo Gioia/Percussions, Edward Madlean/Schlagzeug & Bass). "World, Jazz, Tango" sind Pfeifers Eckpfeiler, und in der Tat bestehen die zwölf Kompositionen ihres Albums aus diesen unterschiedlichen Komponenten. Das Akkordeon steht dabei im Vordergrund, jedoch lässt Pfeifer ihren Musikern ausreichenden Platz für solistische Kabinettstückchen.

Die Lieder, schreibt sie, "entstanden auf Reisen mit argentinisichen Musikern um die Welt bis zur Seine ... beim Warten auf Valentin unter Heckklappen von gelben Taxis ...". Die Musik scheint die jeweilige Atmosphäre ihres Entstehungsorts in sich aufzusaugen, sie wechselt ihre Klangfarben zwischen melancholischer Sehnsucht und brasilianischem Karneval. Sowohl das Akkordeon als auch die übrigen Instrumente kommunizieren in einer sehr bildhaften Sprache, die keiner Texte bedarf, um sich verständlich zu machen.

Cathrin Pfeifer hat dennoch kurze, sympathische Beigleitsätze für das schön gestaltete Booklet verfasst: Schmetterlinge können lila sein, wenn man es nur möchte, ist darin zu lesen - der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt. So überrascht es kaum, dass sie in der Vergangenheit gelegentlich für Theater und Filme komponierte; am bekanntesten ist sicherlich der Titel "Nachtgestalten" zum gleichnamigen Film von Andreas Dresen. Der Song bildet den Abschluss dieses herrlich leichten, stimmig arrangierten und ungemein gefühlvollen Albums.


MANFRED LEUCHTER
Aktuelles Album:
Nomade
LUXaries Records LUXMM04
next www.sparito.de


Dagegen verlangt Manfred Leuchter von seinen Zuhörern auch Kopfeinsatz: "Ich will nicht, dass man gänzlich ohne Mühe höre, was ich nicht ohne Mühe geschrieben habe" - dieses Petrarca-Zitat stellt er gleichsam als Motto über sein Album "Nomade". Keine Frage: Leuchter ist ein Überzeugungstäter in eigener Sache. Er genießt die Unabhängigkeit in jeder Form, lebt mal in Aachen, mal in Marrakesch, und obwohl "Nomade" bereits sein fünftes Album ist, arbeitet er noch immer ohne Vertrieb. Seine Platten sind ausschließlich über seine Website zu beziehen, oder natürlich während seiner Konzerte.

Auch Leuchter ist ein Meister des Akkordeons. Gemeinsam mit Christoph Titz (Trompete), Steffen Thormählen (Schlagzeug), Antoine Pütz (Gitarre/Bass) und Heribert Leuchter (Klarinette) erreicht sein Sound manchmal Bigband-Ausmaße, und Jazz in all seinen verschiedenen Spielarten scheint wenigstens schemenhaft, meistens jedoch recht deutlich, aus seinen Kompositionen heraus. Das besondere an seiner Musik ist das Akkordeon selbst, das in diesem ungewohnten Umfeld einen ganz anderen Charakter bekommt und von der schwerfälligen Quetschkommode zum wandlungsfähigen Improvisationsinstrument mutiert.

Dass Leuchter darüber hinaus arabische, afrikanische und lateinamerikanische Rhythmen in seinen Sound mit einbaut, lässt den Facettenreichtum seiner Ideen erkennen, und natürlich hat der Künstler es verdient, dass man seine detailverliebten Kompositionen im Sinne des Petrarca-Ausspruchs würdigt - aber ebenso gut darf man sich den ausgefeilten Arrangements hingeben, in ihnen versinken und sich einfach treiben lassen.


ULRIKE DANGENDORF
Aktuelles Album:
SPUREN (Traces)
Westpark Music 87109
next www.ulrike-dangendorf.de


Wer ein Faible für den puren, unverfälschten Klang des Akkordeons hat, dem sei das Album "Spuren" von Ulrike Dangendorf empfohlen. Ohne weitere instrumentale Begleitung lässt Dangendorf ihre Musik für sich sprechen. Obwohl keineswegs konstruiert oder verkopft, erscheint ihr Akkordeonspiel nur beiläufig als Musik: in der Hauptsache erzählt es Geschichten.

Geschichten aus der Natur, von der Begegnung mit anderen Menschen, von leiser Trauer und lauter Fröhlichkeit. Wer mag, kann seiner Fantasie durch einen Blick auf die Namen der einzelnen Titel einen Schubs geben und wird dann erfahren, wie ein vertontes "Gänseblümchen" klingt, oder - schon einfacher - die "Ungeduld". Aber auch, wer noch nie den Markt von Recanati besuchte, wird am Ende dieses Stücks ein Bild vor dem inneren Auge haben.

Ulrike Dangendorf zeichnet darin das überraschend vielschichtige Bild einer italienischen Szenerie abseits des Postkartenklischees und touristischer Romantik: auch das mediterrane Lebensgefühl hat seine Widersprüche und Dissonanzen, und in Ulrike Dangendorfs Akkordeonspiel werden diese empathischen Beobachtungen hörbar.

Das Festhalten eines bestimmten Eindrucks, Moments oder Ereignisses ist für Ulrike Dangendorf ein wiederkehrendes Thema: "Es sind die akustischen Spuren, die diese Orte, Begegnungen und Stimmungen bei mir hinterlassen, und die dann irgendwann zum Kristallisationskern eines musikalischen Themas werden." Manchmal, ergänzt sie, sei eine solche "Spur aus der Umwelt eigentlich schon Musik". So wie in dem Stück "Tanz der Winde". In Wahrheit sind es ihre Finger, die über die Knöpfe und Tasten tanzen, und so gewinnt auch hier das Akkordeon eine nie geahnte Leichtigkeit und Virtuosität - ein Eigenleben.


KIMMO POHJONEN &
ERIC ECHAMPARD
Aktuelles Album:
Uumen
Westpark Music 87116
next www.kimmopohjonen.com


Während das Akkordeon bei Ulrike Dangendorf eine eigene Erzählsprache besitzt, ist es in den virtuosen Händen des Finnen Kimmo Pohjonen ein Mittel der Abstraktion. Gemeinsam mit dem französischen Schlagzeuger und Percussionisten Eric Echampard hat Pohjonen sich nämlich der freien Improvisation verschrieben. Ihre Musik, sagen beide, entstehe erst auf der Bühne, Proben gebe es nicht.

Auf diese Weise ist jedes Konzert ein Unikat, wie auch die vorliegende CD "Uumen", die das Duo jüngst veröffentlichte. Das Geheimnis ihrer symbiotischen Beziehung gibt das Album freilich nicht preis, und auf Gegenständlichkeit legt das Duo sowieso keinen Wert. Ihre spontanen Kompositionen aus Akkordeon, Schlagwerk und der mysteriösen Kehlkopfstimme Pohjonens verweigern sich jeder Bildhaftigkeit und sind dennoch von außerordentlicher atmosphärischen Intensität.

Der Zuhörer bleibt mit den Klängen allein. Kryptische Titel wie "Dada", "Fil fragile" oder "Utopia" erleichtern das Verständnis nicht, sondern scheinen gezielt in die Irre zu führen. Diese Musik wäre eine ideale Begleiterin für Ausstellungen bildender Künste oder Multimedia-Projeke, die die fehlenden Bilder zu diesen eigentümlichen Klanginstallationen gleichsam "nachliefern" könnten.

Ohne diese optische Verstärkung dringt das sperrige Akkordeon in Bereiche vor, in denen man es nicht vermutet hätte. Dabei ist die Anziehungskraft, die sein Klang erreicht, durchaus ambivalent, da Pohjonen und Echampard ständig zwischen vertrauten Strukturen und Elementen der Verfremdung wechseln. So bleibt ihr Sound unberechenbar und unergründlich - wie das Akkordeon selbst.

© Michael Frost, April/Mai 2005


Weitere Rezensionen aktueller Akkordeon-CDs
bei CD-KRITIK.DE
MOTION TRIO
PIC-TURES FROM THE STREET

Asphalt Tango Records
LYDIE AUVRAY


PURE


Westpark
Music/
Indigo

DUO DIAGONAL

TANGO 040

Tropical Music/
BMG
rückblick Neue Akkordeonmusik - Teil 2

Suchen nach:
In Partnerschaft mit Amazon.de



 


[Up]