Die
Musikszene ist vielfältig wie nie. Eine beherrschende Bewegung
ist kaum mehr auszumachen; Musikfans spalten sich in kleine Gruppen
mit ganz unterschiedlichen Vorlieben, entwickeln neue Stile oder entdecken
alte, pflegen sie detailverliebt - oder befreien sie von überkommenen
Strukturen. Zum Beispiel Tango: Ursprünglich als Teil einer sozialen
Bewegung der unterprivilegierten Einwanderer in Argentinien entstanden,
wurde er später in Europa Teil des Portfolios gängiger Standardtänze,
eingeebnet und entschärft. Von der Ursprünglichkeit seines
Ausdrucks, seinem erotischen Temperament, seiner leidenschaftlichen
Hingabe blieb nur eine Ahnung.
Doch
die Zahl der Musiker und Musikhörer, die sich für den Tango
in seiner "echten" Fassung interessieren, wächst, und
daneben auch die Begeisterung für lange verpönte Instrumente
wie Akkordeon bzw. Bandoneon. Vielleicht ist es Yann Tiersen und seinem
phantastischen Soundtrack zur "Fabelhaften Welt der Amelie"
zu verdanken, dass das Akkordeon seit einigen Jahren eine Renaissance
erlebt.
Ein
wenig Tiersen steckt auch im Beginn des Albums "Tango 040"
(sprich: zero-quatro-zero) des Hamburger Duo Diagonal. Leise und zärtlich
erhebt Jörg Sieglochs Knopfakkordeon seine Stimme, um im Verlauf
des Stücks gemeinsam mit der von Hans-Christian Jaenicke gespielten
Geige zu Piazzollas "Balada para un loco" zu verschmelzen.
Die "Balada" ist ein typischer Tango Nuevo, eine kantige
Komposition voller widersprüchlicher Empfindungen, die hier allein
durch das grandiose Zusammenspiel zweier Instrumente interpretiert,
besser: gelebt werden.
Denn
Tango kann man nicht "darstellen". Ob nun als Musiker oder
als Tänzer: Wer sich diesem Rhythmus nur mit rationaler Distanz
nähert, wird ihn nicht verkörpern können. Doch exakt
diese Verkörperung extremer Gefühlslagen zwischen Liebe
und Verzweiflung gelingt den beiden Hamburgern. Ihre Tangos und Milongas,
in die sie wie selbstverständlich musikalische Einflüsse
aus Frankreich, Russland, Klassik und Jazz einstreuen, erscheinen
geradezu als innere Dialoge der Seele, in Szene gesetzt durch zwei
miteinander kommunizierende Instrumente.
Jaenicke
und Siegloch belegen damit eindrucksvoll, was Musik zu leisten in
der Lage ist, wenn handwerkliche Perfektion und künstlerische
Leidenschaft zusammen kommen. Zugleich gelingt ihnen eine individuelle
Handschrift, die sich von den traditionellen und modernen Formen des
Tangos unterscheidet. Die programmatische Einordnung als "Tango
040" (die Zahl steht für die Hamburger Telefonvorwahl!)
geht also völlig in Ordnung.
© Michael Frost, 13.03.2005
"Duo
Diagonal: Tango 040"
(Tropical Music 68.847/BMG)