Seit jeher sei sie von singenden Nonnen fasziniert gewesen, schwärmt Lisa Papineau. Einmal habe sie auf der Autobahn eine Aufzeichnung aus Notre Dame gehört, "in der eine einzige Nonne singt und Gitarre spielt und von der großen Orgel der Kathedrale begleitet wird" (Pressetext). Dieses Erlebnis bildet nun den Auftakt zu "Red trees", dem zweiten Soloalbum der Wahl-Französin, die an der Ostküste der USA aufwuchs. "René Thomas" ist Songtitel und -autor in einem. Papineau verarbeitet das "Theme for Manuel" des belgischen Jazzmusikers zu einem eigenwilligen Choral mit Gitarre, Schlagzeug, mehrstimmigem Gesang und der donnernden Orgel von Saint Géraud in Aurillac (Auvergne).
Dennoch: "Red trees" ist keineswegs ein religiöses Album, und Lisa Papineau ist nicht die Nonne, die sie einst im Radio hörte. Dafür fehlt es ihr letztlich an dogmatischer Grundhaltung. "Red trees" ist vielmehr ein experimentelles Album, eines, das die Grenzen des eigenen Könnens auslotet, ohne sich schließlich festlegen zu wollen. Die Kirchenorgel ist dabei nur die eine Möglichkeit, elektronische Sounds wie in "Gay can't wait forever" bilden den Gegenpart dazu. Dazwischen liegen digitale Folksongs wie "White leather pants", eine Gesangsstimme zwischen der melancholischen Schüchternheit einer Keren Ann und Dolores O'Rhiordan zu besten Cranberries-Zeiten und einem eigenwilligen Rhythmusgefühl, das an den sonderbaren R&B-Akustikpop der Schwedin Jenny Wilson erinnert.
Im Titelsong "I dream of red trees" liefert Lisa Papineau sich dann wiederum ein sehr französisch dahin gehauchtes Duett mit dem glänzend aufgelegten Matthieu Boogaerts. In ihm, so scheint es, hat sie einen stimmlich kongenialen Partner gefunden, der ihre Visionen nicht nur teilt, sondern weiter ausbaut.
Trotz der instrumentalen Experimentierlust ist "Red trees" ein sehr reduziertes, intimes Album. Den Rhythmus liefern häufig nur klatschende Hände, die Begleitung wechselt, während Lisa Papineaus kühle und betont nüchterne Stimme die Zuhörenden aufwühlt - weil sie nicht der Erwartungshaltung der sanft säuselnden Chanteuse entspricht.
Diese Fähigkeit zum pointierten Kontrast ist es vielleicht, die sie vielen Kollegen als interessante Kooperationspartnerin erscheinen lässt. Mit Air arbeitete sie an "10000 hz legend" und "Talkie Walkie", mit Mars Volta-Bassist Juan Alderete de la Pena führt sie das Seitenprojekt "Big Sir", und zuletzt hörte man sie auf dem (auch an dieser Stelle) gefeierten Album des Japaners Jun Miyake ("Stolen from strangers").
Nein, bei aller Bewunderung für geistliche Musik wird aus Lisa Papineau sicherlich keine Nonne - die gänzlich undogmatische Offenheit für alle Richtungen zwischen Kirchenchoral, Folk, Chanson, Electronica und Jazz steht dieser Karriere im Wege.
Noch nicht einmal auf ihre kulturelle Zugehörigkeit will sie sich festlegen lassen: Inzwischen ist sie in Frankreich ebenso zuhause wie in Vermont: Singt sie Französisch, erkennt man ihren amerikanischen Akzent - doch umgekehrt verhält es sich ebenso. "Red trees" ist in dieser Hinsicht das selbstbewusste Credo einer unabhängigen und von neugieriger Experimentierfreude angetriebenen Künstlerin.
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Michael Frost, 23.05.2009