"Lieber Michael Frost, diese CD muss zu Ihnen!" So stand es in einer eMail, die ich von der Promotion-Agentin von Yellowbird-Records erhielt. Wie Recht sie hatte! Bereits zweimal war in diesem Magazin nämlich von Jun Miyake die Rede. Der Japaner ist der brasilianischen Bossanova seit Jahren verfallen, und seine Alben "Mondo erotica" und "Innocent Bossa in the mirror" wurden nicht nur von dieser Stelle aus als Weg weisend gelobt: Miyake 'internationalisierte' die brasilianischer Rhythmik durch Cool-Jazz, Choralgesang und Chanson.
Aus heutiger Sicht muss sein bisheriges Werk jedoch als Studie für Miyakes neues Album neu bewertet werden. Denn "Stolen from strangers" verdichtet die Erfahrungen von Jun Miyakes Karriere als Komponist, Musiker und Arrangeur gleichsam als hochkonzentrierte Essenz, allerdings nicht nur seiner eigenen Alben, sondern auch die reichen Erfahrungen seiner Langzeit-Kollegen Arto Lindsay und Vinicius Cantuaria gingen in dieses Album ein.
Lindsay und Cantuaria sind zwei begnadete Erneuerer der Bossanova, die sowohl mit eigenen Alben als auch durch ihre Produktionen für andere Künstler gerühmt werden. In Jun Miyake haben sie einen kongenialen Partner gefunden, der es ihnen darüber hinaus ermöglicht, die Grenzen der "musica popular brasileira" gezielt zu überschreiten - wovon alle Beteiligten auf "Stolen from strangers" reichlich Gebrauch machen.
"Alviverde", mit dem Miyake, der sämtliche Titel im Alleingang komponierte und arrangierte, das Album eröffnet, zeigt bereits seine ganze Raffinesse. Den donnernden Sambatrommeln (Cantuaria) setzt er Bass, Cello und Akustikgitarre entgegen, zudem die melancholisch-nüchterne Stimme Arto Lindsays, Rhodes und Samples, die offenbar vom Anschlag einer Schreibmaschine stammen, bis das Bulgarian Symphony Orchestra den Sound zu Leinwandbreite erweitert. Das Wechselspiel dieser so gegensätzlichen Elemente schafft eine elektrisierende Spannung, die ab diesem Moment nicht mehr verloren geht, sondern sich mit jedem neuen Stück erneuert, egal, ob es sich um Titel mit eher fragmentarischem Thema handelt ("O fim") oder epische Mini-Jazz-Triphop-Sinfonien wie "tHe heRe aNd afTer" und "Est-ce que tu peux me voir" mit dem Gesang der von Tori Amos geförderten Amerikanerin Lisa Papineau, die ihre Karriere in einer Inszenierung in der Brecht/Weill-Oper "Mahagonny" startete.
(Video: Auftritt von Jun Miyake, Lisa Papineau und Band in der frz. Fernsehsendung "Ce soir ou jamais". Quelle: youtube.de)
Diese besondere Musical-Tradition, die ihren Ursprung im Revue- und Cabaret-Theater hat, schlägt sich auch bei Miyake nieder. Er mischt die Dissonanz Weills mit dem Cool Jazz Chet Bakers ("Abandon Sight") und führt auch sie mit Arto Lindsays Gesang und Cantuarias Bossanova-Gitarre zusammen ("Turn back").
"Stolen from strangers" ist eine nahezu unendlich wirkende Fundgrube an ungewöhnlichen Einfällen und ihrer gekonnt-raffinierten Umsetzung. So fühlt man sich bisweilen an die Filmmusiken der französischen Komponisten Yann Tiersen und Bruno Coulais erinnert, gebannt lauscht man Miyakes Flügelhorn-Soli ("Est-ce que tu peux me voir"), man wird euphorisch angesichts einer rasanten Bahnfahrt mit Gastsänger Sanseverino ("Le mec dans le train"), man ist hingerissen von einem bulgarischen Frauenchor ("The Cosmic Voice of Bulgaria"), einmal im Duett mit dem französischen Shootingstar Arthur H., einmal in flirrendem Wechselspiel mit arabischer Oud (Dahfer Youssef) und Miyakes flumpet, einer Kreuzung aus Trompete und Flügelhorn.
Miyakes Meisterstück ist in jeder Hinsicht kunstvoll, aber nie artifiziell. Obwohl seine Entscheidungen bis ins kleinste Detail durchdacht sind, wirkt "Stolen from stranger" nicht einen Moment verkopft oder konstruiert. Die poetische Kraft seiner Klangbilder ist pure Magie, der Reichtum der Farben Atem beraubend. Kurzum: "Dieses Album muss zu Ihnen!"