Alles
kann so einfach sein. Nicht der ruhmreiche Grammy-Produzent mit der
Ehrfurcht einflößenden Whoiswho-Liste (nach dem Motto: "arbeitete
schon mit ..."), nicht das supermoderne Studio in London oder New
York, nicht die illustre Musikerschar, nicht der angesagte Electronica-Soundtüftler
mit einer Containerladung digitalen Zubehörs - all das gibt es
bei Naked Raven nicht.
Statt
dessen bietet die in der australischen Metropole Melbourne beheimatete
Band jedoch alle Qualitäten, die moderne Popmusik immer seltener
ausmacht: Aussage und Atmosphäre. "Wrong girl", das
zweite Album des Quintetts Naked Raven, das die Band im Frühjahr
2002 während einer ausgedehnten Tour in Deutschland präsentierte,
begeistert durch seine spürbare Authentizität. Alles an
dieser Musik scheint handgearbeitet, filigran und kunstfertig, mit
viel Liebe für das Detail und Gespür für die zu entfaltende
Wirkung beim Publikum.
Russ
Pinney ist der "Mastermind" von Naked Raven. Von ihm stammen
mit Ausnahme des Titelsongs alle Stücke des Albums, und gemeinsam
mit James Richmond (Percussions) bildet er das Rückgrat der Band.
Janine Maunder (Gesang und Piano), Stephanie Lindner (Geige) und Caerwen
Martin (Cello) wurden erst vor den Aufnahmen zu "Wrong girl"
feste Bandmitglieder und sorgen gemeinsam für den individuellen
Charakter des Sounds von Naked Raven, bei dem (abgesehen von dem gelegentlichen
Einsatz der E-Gitarre) akustische Instrumente überwiegen und
eine Brücke zwischen Kammermusik, Folk, Pop und Alternative schlagen.
Charakteristisch
für das Album "Wrong girl" sind melodiöse Balladen
("Anything"), mehrstimmiger Vokalgesang (superb: Janine
Maunder), überraschende Harmonien und Tempi-Wechsel, gefühlvolle
Landschaften aus Klängen, die durch vorsichtige Verfremdungseffekte
der Instrumente, komplizierte Taktsetzungen und herausfordernde Grundrhythmen
gekonnt vor der Banalität bewahrt werden.
Der
Folkpop von Clannad, die süßen Harmonien von Sixpence non
the Richer, aber auch die Dramatik von Alison Goldfrapp und Tori Amos,
sie alle tauchen bei dem unmöglichen Versuch auf, einen wirklich
passenden Vergleich für die Musik von Naked Raven und die aufwühlende
Stimme von Janine Maunder zu finden, doch richtig zutreffend sind
sie alle nicht: Naked Raven setzen mit "Wrong girl" einen
eigenen Standard.
©
Michael Frost, 7. Dezember 2002