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Unbequemes für
die Überlebenden


Tori Amos, geboren und aufgewachsen im US-Bundesstaat North Carolina, galt in ihrer Heimat lange als schwer vermittelbar, was das Zustandekommen von Plattenverträgen der Klavier spielenden Sängerin betrifft. Zwar wurde sie auch in den USA reichlich mit Auszeichnungen und Anerkennungen bedacht, doch Europa erschien zunächst als das geeignetere Pflaster für ihre extravagante, ambitionierte und komplizierte Musik.

Inzwischen hat Tori Amos ihren ersten Wohnsitz in der englischen Provinz genommen. Doch ihre Heimat lässt sie nicht ruhen. Eine 74-minütige Bestandsaufnahme US-amerikanischer Befindlichkeit enthält ihr neues Album "Scarlet's walk". Es hätte auch "Tori's walk" heißen können, denn Scarlet ist unverkennbar Tori Amos selbst, die Person, die auf einer langen Reise durch die verschiedenen Regionen der USA zweierlei entdeckt: Das vielfach auf Lebenslügen und Verdrängung aufgebaute Wesen des Landes einerseits, und andererseits: sich selbst.

Scarlet-Tori sucht ihren Platz in dem Riesenland. Ausgehend von Los Angeles, der Stadt gefallener Engel und millionenfach enttäuschter Sehnsüchte, beginnt sie eine Reise durch die Zeit, trifft bei verschiedenen Begegnungen mit den indianischen Ureinwohnern auf ihre eigenen Wurzeln (die Familie ihrer Mutter gehört zum Volk der Cherokee) und erlebt das Schicksal ihrer Vorfahren nunmehr rückblickend selbst.

Rassentrennung, Gewalt, die Ausbeutung und Entrechtung des oft zynisch als "Hinterhof der USA" bezeichneten lateinamerikanischen Kontinents, immer wieder auch unglückliche Beziehungen zu wechselnden Männern, das tragische Schicksal eines schwulen Freundes - "Scarlet's walk" ist vollgepackt mit Geschichte und Gegenwart der Vereinigten Staaten.

Alle Titel entstanden nach dem Anschlag auf das World Trade Center in New York. "Seit dem 11. September lernte die Welt Amerika als einen Freund kennen, der getroffen und verletzt wurde", sagt Tori Amos. Ihr Album sei eine Reaktion auf die allgegenwärtige Frage nach dem Warum: "Warum ist das passiert ?" Die gefundenen Antworten sind erwartungsgemäß vielschichtig. Anderenfalls wäre Tori Amos nicht die Künstlerin, die sie ist.

Sie macht es ihren Landsleuten in den USA nicht leicht und konfrontiert sie auch mit unbequemen Wahrheiten. Die schlichte, nichts und niemanden hinterfragende Trauerarbeit, wie sie gerade in den letzten Wochen und Monaten von vielen Künstlern betrieben wird, reicht ihr längst nicht.

Ihr seismographisches Gespür für emotionale Dissonanzen, den Zusammenhang von Ursache und Wirkung und die Diskrepanz zwischen öffentlich inszeniertem Pathos und doppelbödiger Alltagsmoral reagiert auf kleinste Erschütterungen.

"Scarlet's walk" verlangt - und verdient - höchste Aufmerksamkeit, auch in musikalischer Hinsicht.
Aufgrund der Konzeption des Albums als Einheit ist es fast unmöglich, einzelne Titel hervorzuheben.

Die meisten Titel folgen dem ruhigen Erzählrhythmus von Scarlets Erlebnissen und passen sich stilistisch der jeweiligen Reiseetappe Scarlets an. So tragen Musik und Erzählung gleichermaßen zu den epischen Ausmaßen bei, die "Scarlet's walk" schließlich erreicht.

Am Ende jedoch reißt der Faden ab. Auf die Widersprüche der äußeren Welt reagiert Tori Amos überraschend, und etwas enttäuschend, mit einem Rückzug ins Innere. Scarlet findet die Antworten auf ihre Fragen in der Geburt ihres Kindes, ein Ereignis, dass sie mit Tori Amos teilt. Durch das Kind "gelingt es ihr, die bleibenden und vergänglichen Werte unserer Existenz zu unterscheiden".

"Als die Türme des World Trade Centers einstürzten", resümmiert Tori Amos, "realisierten wir, dass alles, was wirklich wichtig ist, in unseren Herzen Bestand hat." Diese Weisheit jedoch ist ebenso richtig wie nichts sagend, und sowieso gilt sie ausschließlich für die Überlebenden.

Es ist Tori Amos' gutes Recht, an dieser Stelle innezuhalten. Für die Gesellschaft allerdings, von der sie auf "Scarlet's walk" erzählt, wäre das zu wenig.

© Michael Frost, 02. November 2002

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