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Zwischen Bollywood
und Bossanova


Künstlerinnen vom Format einer Natacha Atlas sind eine Ausnahmeerscheinung. Die in Belgien geborene Tochter ägyptischer Vorfahren ist heute eine der ganz wenigen Künstlerinnen, die den Spagat zwischen okzidentaler und orientaler Kultur mühelos bewältigt und glaubwürdig vertritt.

Ihr Erfindungsreichtum ist dabei nahezu grenzenlos. Sie coverte Brel ("Ne me quitte pas"), James Brown ("It's a man's world") und Nina Simone ("I put a spell on you"). Ihre eigenen Songs verknüpfen arabisches Lied und europäische Beats. Wo Massive Attack mit ihren Klangvisionen aus Drums&Bass, Trance und Hiphop aufhören, da macht Natacha Atlas weiter: hypnotisch, betörend und verstörend.

Bislang war jedes ihrer Alben eine Entdeckung ungeahnter Kostbarkeiten. Das gilt auch für ihr neues Album "Mish maoul", das ganz bedächtig beginnt: "Oully ya sahbi" ist eine wunderschöne Ballade mit hinreißendem Rhythmus, leisen Percussions und Flöte. Doch bald darauf, in "Hayati inta", meint man sich unversehens im Mahgreb, etwa auf dem berühmten Markt von Marrakech wiederzufinden - zwischen Berbern, fliegenden Händlern, Straßenmusikern und einer Vielzahl unterschiedlicher Gerüche.

Doch an einer solch westlich-romantisierenden Postkartenidylle ist Natacha Atlas gänzlich uninteressiert. Also bricht sie das Bild immer wieder, sei es durch die Verfremdung ihrer Stimme mit dem Vocoder ("Feen", ein Duett mit Princess Julianna), sei es durch E-Gitarren ("Hayati inta") oder Rhythmen, die sie dem Drums&Bass entlehnt. In ihrer Wandlungsfähigkeit erscheint sie mals als orientalische Antwort auf Madonna ("Bab el janna"), mal als die indische Filmmusik-Interpretin Asha Boshle - nie kann man sicher sein, was sie als nächstes präsentieren wird.

Zum Beispiel Bossanova: Denn auch in der Seele Brasiliens ist Natacha Atlas zu Hause ("Ghanawah bossanova"). Krönung dieses Albums dürfte jedoch "La lil Khowf" sein: In dem Song verbindet sie ihren eigenen Gesang mit französischem und englischen Rap, Akkordeon, digitalen Drumloops und "echten" Percussions sowie den fulminant arrangierten Streichern des "Golden Sounds Studio Orchestra" aus Kairo. Spätestens zu diesem Zeitpunkt ist man dem Charme und der Anmut der Musik von Natacha Atlas wieder erlegen, und das dürfte für jedes Publikum gelten - unabhängig von der jeweiligen Kultur.

Wohl aus diesem Grund wurde Natacha Atlas 2001 zur "Botschafterin der UN-Konferenz gegen Rassismus" berufen. Die irische Präsidentin Mary Robinson in ihrer Begründung: "Sie verkörpert die Botschaft, die unsere Stärke und Vielfältigkeit ausmacht, sei es Volk, Rasse oder Religion. Niemand muss Angst haben, aus diesem Reichtum zu schöpfen und sie zu umarmen."

© Michael Frost, 27.04.2006

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