Als
sie 1989 mit ihrem Debüt-Album "Mlah" aufwarteten,
waren sie die Sensation der Pariser Szene: Les Négresses Vertes,
eine turbulente Multikulti-Truppe, Acht-Mann-Orchester und drei Frauen
mit einem bis dahin nie gehörtem Sound aus Polka, Pop und Pogo,
unbändiger Leidenschaft und überbordender Lebensfreude,
Temperament und ständiger Explosionsgefahr.
"Mlah"
beginnt mit einem schmeichelnden Akkordeon-Walzer, dessen Pariser
Herkunft unverkennbar ist, gefolgt von explosiven Tanznummern, die
gleich einem Vulkanausbruch daherkommen, darunter grandiose Songs wie "C'est pas la mer à boire", "Voilà
l'été" und "Zobi la mouche" (s. Videolink/youtube.de).
Sowohl
auf "Mlah" als auch auf dem nicht minder furiosen Nachfolge-Album
"Famille heureuse" schöpfen die Négresses Vertes
hemmungslos aus dem Vollen. Drums und Percussions, Harmonika, Akkordeon,
Klavier, Gitarren, Bass und Bläser schaffen einen satten und
energiegeladenen Sound, der sich sofort auf die Zuhörer zwingt
und geradezu aus den Sitzen reißt.
Der
Erfolg kam praktisch sofort. Les Négresses Vertes galten nicht
nur als Frankreichs Antwort auf die irischen Pogues, sondern als Pioniere
einer ganzen neuen multi-kulturellen Musik, die sich hemmungslos eines
schier unerschöpflichen Reservoirs unterschiedlichster Stile
zwischen Brel und Piaf, Flamenco, Rom-Pop, Jazz und Latino-Rhythmen
bediente. In ihrem Umfeld erstand im Laufe der Jahre eine ganze Szene
von ähnlich erfolgreichen Bands und Musikern, darunter die Ethno-Punk-Band
Mano Negra mit ihrem Frontmann Manu Chao, der aus Algerien stammende
Raï-Star Khaled, die Ägypterin Natacha Atlas, und der Chanson-Revoluzzer
Mano Solo.
Der
überraschende Erfolg der Négresses Vertes auch außerhalb
Frankreichs, vor allem in England, verschaffte ihnen auch eine Einladung
zur Beteiligung an dem ersten Projekt der "Red Hot"-AIDS-Benefiz-Kampagne,
einem Cole Porter-Tribute. Die Négresses Vertes verwandelten
dessen Musical-Hit "I love Paris" mit dem typischen Band-Sound
in eine swingende Hommage an die französische Hauptstadt.
Der
Erfolg schien unaufhaltsam, als das Entsetzliche geschah: Der unbestrittene
Kopf der Négresses Vertes, ihr Sänger und Band-Leader
Noel Rota, "Helno" genannt, starb im Januar 1993 im Alter
von nur 29 Jahren an einer Überdosis Drogen. Zwei Jahre benötigten
die übrigen Négresses Vertes, sich von dem Schock zu erholen
und sich neu zu formieren.
In
der Zwischenzeit erschien ein Remix-Album mit Titeln ihrer beiden
Alben, darunter eine superbe Dance-Version von "Face à
la mer" unter der Regie von Massive Attack, sowie weitere Remixes
von William Orbit, Kwanzaa Posse, Clive Martin, Sodi und Norman Cook.
Die Négresses Vertes hatten es tatsächlich geschafft,
mit ihrem Ethno-Sound Eingang in die Welt der Elektronik-Pioniere
zu finden, und die Ergebnisse konnten sich durchweg hören lassen.
"Zig-Zague",
das erste Album ohne Helno, erschien 1994. Die ehemals 10köpfige
Combo hatte sich halbiert: Akteure der "neuen" Négresses
Vertes waren nunmehr Stephane Mellino (Gitarre) mit seiner Frau Iza
(Percussions), Mathieu Canavese (Akkordeon), Michel Ochowiak (Gitarre,
Trompete) und Paulus (Bass). Den Gesang teilen die Bandmitglieder
seither untereinander, mit leichten Vorteilen für Stephane Mellino,
der auch schon einige der Lieder der ersten beiden Alben gesungen
hatte. Musikalisch vollzog sich auf "Zig-Zague" noch kein
deutlicher Wandel, wohl aber eine Verstärkung der Latino-Elemente
wie in der Single-Auskopplung "Mambo Show" deutlich zu hören.
Auf das Album folgte eine fast zwei Jahre dauernde Tour der Négresses
Vertes durch ganz Europa, die anschließend auf dem Live-Doppelalbum
"Green Bus - Les Négresses Vertes en public" eindrucksvoll
dokumentiert wurde.
Der
Band war es gelungen, die große Lücke, die durch Helnos
Tod enstanden war, zu schließen, aber bei den Aufnahmen für
das nächste Album muss die Band festgestellt haben, sich im Kreis
zu bewegen: Allein die neue Abmischung des charakteristischen Bandsounds
reichte ihnen nicht mehr. Schon das 1993er Remix-Album hatte ihnen
die Möglichkeit zu Gehör gebracht, ihre im mediterranen
Raum angesiedelte Musik mit der elektronischen Avantgarde der britischen
Szene zu kombinieren.
"Trabendo"
hätte ohne den Einfluss des Elektrosound-Pioniers Howie B. ein
typisches Négresses Vertes-Album werden können, bestehend
aus einer Fülle wunderbarer arabischer, Latino- und Rom-Pop-Rhythmen,
doch er bändigte das Temperament der Stücke mit digitaler
Technik, Breakbeats und Drums'n'Bass-Elementen. Die Bläser-Sequenzen,
die vorher immer nach brasilianischem Karneval klangen, wurden bei
Howie B. zu coolem Nu-Jazz. Kurzum: Er versetzte den Sound der Négresses
Vertes von der Straßenmusik in der Métro-Station in den
angesagtesten In-Club. Der sonst so anarchische und entfesselte Sound
klang plötzlich erschreckend "reif" und "erwachsen".
Ein
gewagtes Experiment, aber ein überzeugendes, was auch von denen
eingeräumt werden musste, denen die "alten" Négresses
Vertes lieber waren - aber letztlich darf man ihre experimentelle
Neugier nicht gegen sie verwenden. Und so gesehen ist ihnen auch mit
ihrem nächsten Album, dem gerade erschienenen "Acoustic
clubbing", die nächste Überraschung gelungen: Während
alle Welt versucht, den Computer wie "echte" Instrumente
klingen zu lassen, geht es auf "Acoustic Clubbing" um das
Gegenteil, nämlich die Schaffung einer sonst durch Elektronik
geprägten Club-Atmosphäre mit akustischen Instrumenten.
Auf
ihre spezielle und äußerst originelle Art beteiligen sich
die Négresses Vertes also an der spannenden Suche der französischen
Club-Szene um Air, Daft Punk oder Tahiti 80 nach dem Sound des 21.
Jahrhunderts.
Das
hervorragende Ergebnis dieses Experiments bestätigt die Ausnahmestellung
der Négresses Vertes in der französischen Musiklandschaft.
Und wer sich zunächst einen Überblick über das umfängliche
Werk der Négresses Vertes machen möchte, dem sei das jüngst
erschienene Best-of-Album der Band "Le grand déballage"
anempfohlen. Die Compilation beinhaltet 20 der interessantesten Titel
von "Zobi la mouche" über "Face à la mer,
Live-Versionen von "Orane", "Les mégots"
in der Acoustic Clubbing Version und "I love Paris" vom
Red Hot + Blue-Album.
Michael
Frost / 15. November 2001
Update: 05.07.2002
Fotos: Booklet "Zig-Zague", Virgin 1994