Während 
          der deutschen Volksmusik noch heute bestenfalls der Geruch altmodischer 
          Rückständigkeit, andererseits aber auch von Rechtskonservatismus 
          und Nationalismus anhaftet, verstand sich die musica popolare 
          Italiens immer als Stimme des Volkes im Sinne des Strebens der Menschen 
          nach Freiheit und gegen ihre Unterdrückung. Diese Tradition findet 
          sich dabei nicht nur in der Musik, sondern vielfach beispielsweise auch 
          in der Tradition des Volkstheaters, der commedia dell'arte.  
          Gerade 
            im Süden Italiens, in Sizilien, Apulien, der Campania und Basilicata, 
            den bis heute ärmsten und ökonomisch rückständigsten 
            Region Italiens, sind die alten Traditionen noch besonders lebendig. 
            So auch in Tricarico, einer Gemeinde in der Basilicata, die durch 
            ihren jährlichen Karnevalsumzug, bei dem die Dorfbewohner in 
            als Stiere maskiert durch den Ort ziehen, berühmt wurde.
          Untrennbar 
            mit dem bunten Treiben ist auch eine besondere Form der Musik, die 
            vor allem von Percussion-Instrumenten und lautkehligem Männergesang 
            getragen wird, dabei ungemein temporeich und überschwänglich 
            ist. Die Musik heißt "Taranta" - abgeleitet von der 
            bissigen Tarantel - und genauso wendig, bissig und unberechenbar ist 
            eben auch der Rhythmus. 
          Die 
            "Tarantolati di Tricarico" existieren bereits seit mehr 
            als 30 Jahren. Gemäß ihrem Grundsatz, das Volksmusik nicht 
            fürs Museum ist, sondern für die Menschen (von heute), hat 
            die Gruppe nicht nur die Kooperation mit den bedeutendsten Künstlern 
            des Landes (darunter Nobelpreisträger Dario Fo und der Schauspieler/Regisseur 
            Roberto Benigni) gesucht, sondern immer auch die Verknüpfung 
            mit zeitgenössischen Musikstilen. 
          Der 
            rasante Sprechgesang im derben Dialekt des Mezzogiorno erinnert an 
            Rap, die Musik bisweilen an Trance, vor allem, wenn das akustische 
            Set ihres aktuellen Albums "U' squatàçë" 
            um elektronische Elemente erweitert wird, und die Leidenschaftlichkeit 
            der Musik ist ohne Beispiel: sie sprüht vor Energie und Lebensfreude. 
            
          In 
            Deutschland muss man auf die Ankunft der feurigen tarantolati 
            wohl noch etwas warten. Deutlich größer dagegen ist die 
            Chance, sie dabei zu erleben, wie sie im Sommer eine italienische 
            piazza zum Beben bringen, beispielsweise mit ihrem Schlusssong 
            "Munakèllë". Der mit einer tosenden Blaskapelle 
            eingespielte Titel verdeutlicht nämlich, dass auch die heute 
            zur "Hochkultur" gerechnete Oper ihren Ursprung in der Musik 
            des einfachen Volkes hat - und genau dorthin bringen die tarantolati 
            sie auch wieder zurück. Grandios!
            
          © 
            Michael Frost, 30.06.2007