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Nichts ist wie es war


Was könnte "OK Computer", Radioheads 97er Album, noch toppen ? Die Platte war übereinstimmend wenigstens zur besten CD der 90er gekürt worden, wenn nicht gar aller Zeiten. Alle Gipfel schienen erklommen, bishin zu dem seltenen Umstand, dass Kritiker- und Publikumsmeinung einheitlich waren: viereinhalb Millionen verkaufte Exemplare sprechen für sich.

Und jetzt das. "Kid A" erschien nach einjähriger Studiozeit, erfüllt nicht nur die in die Band gesetzten Erwartungen, es übertrifft sie und erschlägt sie: Eine Platte, wie es sie vorher nie gab. Am düstersten, am sphärischsten, am eindringlichsten, am leistesten, am lautesten, am einsamsten, am introvertiertesten, aber auch am expressivsten und am pompösesten ... - kein Superlativ, und steht er auch noch so sehr im Widerspruch zu den anderen, ist unpassend, fast, als ob die fünf Oxforder Schulfreunde ein Liste hätten abhaken wollen, eine Liste nicht mehr steigerbarer Empfindungen und ihren Beschreibungen.

Sowohl Jonny Greenwood, der Gitarrist der Band als auch Lead-Sänger Thom Yorke haben auf Kid A nicht viel zu tun. Kein Wunder, dass Yorke Zeit genug blieb, mit Björk, deren männliches Pendant in Sachen experimenteller Post-Rockmusik er zu werden scheint, ein Duett für ihre "Selmasongs" aufzunehmen.

Denn weder wird auf "Kid A" viel gesungen noch könnte man Radiohead auch nur im entferntesten unterstellen, noch eine "Gitarrenband" herkömmlichen Typus' zu sein. Die anderen drei (Colin Greenwood, Ed O'Brian und Phil Selway) hört man aber auch nicht, es ist nicht ganz klar, wer auf "Kid A" die Musik macht, abgesehen vom Computer und dieser seltsamen Musik-Maschine, die in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts erfunden wurde und sich "Ondes Martinot" nennt. Wer die Musik macht ? Eher: Geräusche, Töne und Laute, aus denen schließlich gewaltige Klangteppiche gewebt werden, die selbst mit "OK Computer" nicht mehr viel verbindet.

"Kid A" macht das "Lied" als Konstante der Rockmusik zu einem antiquierten Begriff, denn "Lieder" gibt es auf der CD keine, sondern bestenfalls "Abschnitte", "Kapitel" oder "Szenen".

Das höchste in der Rockmusik ist das so genannte "Konzept-Album". "Kid A" ein Konzept-Album geworden, und das Konzept heißt wie eines der Kapitel: "How to disappear completely". Wie verschwindet man vollständig, z.B. aus den bekannten Pfaden britischer Pop- und Rockmusik.

Also ist verständlich, weshalb es keine Single-Auskopplungen geben wird: Wo keine Lieder sind, gibt es auch keine Singles. Von Symphonien gibt es auch keine Singleauskopplungen.

Und wenn der "Spiegel" damit recht hat (und er hat recht, daran kann es überhaupt keinen Zweifel geben), Radiohead als die "erste Supergruppe des 21. Jahrhunderts" zu bezeichnen, dann ist "Kid A" auch die erste Symphonie des 21. Jahrhunderts, eine elektronische Symphonie, in der gelegentlich eine Geige auftaucht, oder ein Blasinstrument, eine Gitarre, Instrumente, die daran erinnern, wie Musik einmal war, aber nach "Kid A" nicht mehr sein wird, weil Radiohead nicht nur den Pop im allgemeinen, sondern auch die Computermusik im besonderen neu erfunden haben.

Nichts ist wie es war. Die Beatles waren gestern, Kraftwerk haben ausgedient: Der erste Klassiker des neuen Jahrhunderts kommt aus Oxford und trägt den Namen eines Computerspiels, mit dem Kinder ihre Stimmen verfremden können: "Kid A".

MF / 14. Oktober 2000

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