Wenn
man in Lissabon ist, seinen Blicke über den Tejo weit hinaus
Richtung Ozean schweifen lässt, um anschließend einen Blick
auf die Stadt zu werfen, dann reichten die fünf Sinne mehr aus.
Man müsse in der Lage sein zu hören, was man sehe, zu sehen,
was man höre, zu riechen, was man mit den Fingerspitzen taste
- und auf der Zunge das Salz schmecken, das "gerade in diesem
Augenblick auf der von der offenen See heranrollenden Welle"
zu hören und zu sehen sei. In diesem Augenblick applaudiere er
dem Leben, erzählt Literaturnobelpreisträger José
Saramago in seiner "Portugiesischen Reise".
Lissabon
ist nicht nur für die Portugiesen ein Mythos. Die Schönheit
der Stadt ist legendär, und auch Katastrophen wie ein furchtbares
Erdbeben im 18. Jahrhundert, der Zerfall der Großmachtstellung
Portugals auf den Weltmeeren, jahrzehntelange Diktatur, bittere Armut
und zuletzt die Zerstörung des Altstadtviertels Chiado durch
einen Großbrand konnten ihren Glanz nicht dauerhaft trüben.
So
ist es kein Wunder, dass sich Generationen von portugiesischen Künstlern
und Intellektuellen an "ihrer" Stadt abarbeiten. Selbst
Ausländer wie der italienische Schriftsteller Antonio Tabucchi
oder der deutsche Filmregisseur Wim Wenders ließen sich in den
Bann Lissabons ziehen. Wenders war es auch, der die Stimme von Teresa
Salgueiro und ihrer Gruppe Madredeus gleichsam zur Stimme der Stadt
werden ließ. Madredeus schrieben die Musik zu "Lisbon Story",
die unter dem Titel "Ainda" auf CD veröffentlicht wurde,
doch in der langen Diskografie der Gruppe ist "Ainda" keineswegs
das einzige Werk mit Bezug zu Lissabon.
Ihr
neues Album, "Faluas do Tejo", ist deshalb nur eine weitere
Hommage an die "Rainha do mar" (Königin des Meeres)
und den Fluß, der zu ihren Füßen in den Atlantik
mündet. Vom verblassten Stolz der Stadt erzählen die leisen
Lieder, von ihrer ungebrochenen Schönheit, ihrer Geschichte und
ihren Geschichten, von den Gezeiten und Epochen, die kamen und gingen
- und ihr letztlich doch nie etwas anhaben konnten.
Vielleicht
braucht es tatsächlich mehr als die üblichen fünf Sinne,
um Lissabon zu erfassen. Ganz sicher braucht es mehrere Alben, um
ihre Seele hörbar zu machen. Mit sanfter Stimme taucht Sängerin
Teresa Salgueiro Lissabon in zarte Frühlingstöne, begleitet
von dem schon charakteristischen Zusammenspiel von klassischer und
portugiesischer Gitarre sowie zurückhaltenden Synthesizerklängen,
die den Liedern gut tun. "Faluas do Tejo" wirkt durch sie
weniger schwer als die letzten Studioalben des Quintetts ("Movimento",
"Um amor infinito"), in denen ein Gefühl tief empfundener
Melancholie vorherrschend war. Das Gleichgewicht zwischen den drei
Grundelementen Madredeus' scheint wieder hergestellt:
In
allen unseren Liedern finden sich drei Themen wieder: die Liebe,
das Meer und die Saudade . Das sind für uns die
drei Konzepte, die Portugal ausmachen. Gäbe es auf einer einsamen
Insel nur ein einziges Lied von Madredeus, dann müssten die
Gitarren das Rauschen der Wellen wiedergeben und der zärtliche
Gesang das Gefühl der Liebe.
©
Michael Frost, 16.02.2005