Wenn
es richtig ist, dass die Entstehung der "Weltmusik" in den
80er Jahren im Umfeld des "Real World"-Labels von Peter Gabriel
liegt (so jedenfalls behauptet es die Online-Enzyklopädie Wikipedia),
dann muss Pierre Akendengue so etwas wie ein geistiger Geburtshelfer
gewesen sein. Denn der Musiker, der 1943 in Gabun geboren wurde, kam
bereits 1965 nach Frankreich, machte in Orleans seinen Schulabschluss,
studierte an einem renommierten Konservatorium und veröffentlichte
bereits 1974 seine erste Platte. "Pierre Akendengue", so seine
Pressebetreuer, "gehört sicherlich zu denen, die mit Touré
Kunda, Xalam, Youssou N'Dour oder Salif Keïta die Explosion der
afrikanischen Musik im Frankreich der Achtziger initiiert hat."
Doch
Akendengues Interesse galt damals wie heute weniger der Etablierung
afrikanischer Musik in Europa. Vielmehr arbeitet er in seiner Musik
nicht weniger als die Geschichte eines Kontinents auf: Afrika. Das
gilt auch für sein neues - achtzehntes - Album, "Gorée".
Dem Booklet stellt er einen programmatischen Text voran: "Europa
hat die Versklavung organisiert, und die afrikanischen Könige
und Clan-Chefs haben sie dabei unterstützt." Für die
qualvolle Geschichte ist "Gorée", Akendengues Albumtitel,
ein Synonym, denn Gorée ist eine Insel vor der Küste Senegals,
die über vier Jahrhunderte, bis 1848, von fast allen europäischen
Kolonialmächten zur Verschiffung von Sklaven diente.
Ohne
die Europäer von ihrer kolonialen Vergangenheit freizusprechen,
beleuchtet Akendengue so die Verantwortung der eigenen Herrscher,
der lokalen Autoritäten und Clan-Führer und ihrer Rolle
bei der Verschleppung der Afrikaner vor allem nach Amerika. Die unbequemen
Wahrheiten sind dabei wichtige Voraussetzungen für die Emanzipation
Afrikas. "Kunst", so Akendengue", sollte vorrangig
ein Instrument der Befreiung sein."
"Von
überall auf dem Kontinent erhebt sich ein mächtiger Schmerzensschrei",
singt Akendengue in "Yemba Gorée", und trotz der
offenen Wunden ist seine Musik voller Hoffnung und Lebensfreude. "Singen",
heißt es in demselben Lied, "ist die Sprache des Herzens",
und das Herz sprechen zu lassen, ist die Voraussetzung für die
Überwindung des kollektiven Traumas, das die Bevölkerung
des gesamten Kontinents miteinander teilt. Und die Verarbeitung gelinge
nur in der offensiven Auseinandersetzung - und nicht etwa durch Verdrängung.
"Erinnere dich, Afrika", so Akendengues Appell im Schlusssong
"La chanson de Gorée", "erinnere dich an Gorée,
Afrika!"
Mit
leidenschaftlichen Rhythmen, traditionellen Instrumenten, einem Männer-
und einem Frauenchor hat Pierre Akendengue sein Projekt umgesetzt.
Der Sound ist kraft- und druckvoll, die Arrangements sind komplex
- zur guten Absicht gesellt sich hier die mitreißende Form der
Umsetzung - die Energie dieses Albums dürfte nicht nur in Afrika
ihre Wirkung zeigen. Auch deshalb verdient "Gorée"
das Prädikat wahrhaftiger "Weltmusik".
©
Michael Frost, 11.06.2006