Geoff
Barrow hasst es auf Tour zu gehen, weil ihn der Umstand des Reisens
dazu zwingt, seine Freundin, seine Wohnung, seine vertraute Umgebung
zu verlassen. Er weigert sich auch fotografiert zu werden. Sollte sein
Leben einmal verfilmt werden, dann aber am liebsten mit Brad Pitt in
der Rolle des "Geoff", damit die Leute glaubten, er sehe ebenso
gut aus.
Beth
Gibbons lässt sich zwar fotografieren, einmal sogar von einem
richtigen Star-Fotografen, aber sie gibt grundsätzlich keine
Interviews, weil sie keinen Sinn darin sieht, mit Leuten, die sie
gar nicht kennt, über ihre Gedanken, ihr Leben, womöglich
gar ihr Seelenheil zu sprechen.
Ihre
eigenen Videos finden Barrow und Portishead überflüssig.
Sie experimentieren statt dessen lieber mit Kurzfilmen, die natürlich
nicht ins Sendeschema von MTV passen. Die Musikbranche, die sie dazu
zwingt, Clips zu drehen, ignorieren sie. Man solle das Bild ausmachen
und nur den Ton laufen lassen, lautet ihre Empfehlung - doch jeder,
der trotzdem einmal einen ihrer Clips gesehen hat, wird dringend zum
Hinsehen raten. Überhaupt ist die durchgestylte Optik der Band
auffallend und ähnlich stilbildend wie ihre Musik.
Obwohl
ihnen praktisch die gesamte Musikwelt bereits nach der Veröffentlichung
von nur zwei Studio-Alben zu Füßen lag, entschlossen sich
die Bandmitglieder zu einer unbefristeten Pause. Die ist nun, nach zehn Jahren, allerdings endlich vorbei: "Third" steht in den Läden und hat nach übereinstimmender Meinung der Rezensenten das Zeug zum Meisterwerk.
Alles
in allem widersprechen die Hauptakteure von Portishead also auf geradzu
Haar sträubende Weise so ziemlich allen Verhaltensmustern, die
das moderne Establishment von Bands wie ihnen erwartet. Aber: Sie
können es sich leisten, gelten sie doch heute gemeinsam mit Massive
Attack als Begründer eines eigenen Genres, "Triphop"
genannt, das die Musikszene seit den 90er Jahren grundlegend verändert
hat.
Die
britische Hafenstadt Bristol gilt heute als Hochburg des Triphop.
Massive Attack stammen von dort, Portishead ist eigentlich der Name
eines Ortes in der direkten Umgebung, nach dem die Band sich nannte,
und auch einige der bekanntesten Bands der "zweiten" Triphop-Generation
wie Goldfrapp und Alpha stammen aus Bristol.
Geoff
Barrow und Beth Gibbons bilden den Kern von Portishead. Dem Vernehmen
nach lernten sie sich bei der Jobsuche im Arbeitsamt kennen. Später
kamen noch Adrian Utley und Dave McDonald hinzu: Auf dem Debüt-Album
"Dummy" von 1994 werden sie noch als Gast-Musiker erwähnt.
Triphop
ist eine eigentümliche Mischung mit Elementen aus Hip Hop, Soul,
Rock, Drum´n Bass und Jungle. Bei Portishead kommt außerdem
ein nicht überhörender Einfluss aus dem Jazz dazu, eine
Vorliebe für die Soundtracks von Agenten-Filmen aus den 60er-Jahren,
sowie das einzigartige Timbre der Stimme von Beth Gibbons, schließlich
ihre unter die Haut gehenden Texte - ohne Zweifel ist Beth Gibbons
ein eigenständiger Faktor, der den Portishead-Sound endgültig
unverwechselbar macht.
Verletzung,
Verlassenheit und Verzweiflung - all das drückt sie mit ihrer
zerbrechlichen flehenden Stimme aus, mit der sie den Zuhörenden
kalte Schauer über den Rücken jagt. In ihren Texten drückt
sie wie keine Zweite Einsamkeit, Angst und Resignation aus, man wähnt
eine Frau am Rande des Nervenzusammenbruchs, aber Portishead sind
auch Gradmesser für den kritischen Zustand der Postmoderne, in
der Orientierungslosigkeit und Sinnsuche zum beherrschenden Phänomen
- und aussichtslosem Unterfangen geworden sind.
"Who
am I, what and why
cos all I have left
is my memories of yesterday
oh these sour times"
(Beth
Gibbons, "Sour times")
Die
Annahme, Portishead seien selber Opfer dieser Zustände, ist möglicherweise
eine allzu oberflächliche Vereinfachung. Man muss nicht unbedingt
selbst depressiv sein, um depressive Liedertexte schreiben zu können.
Natürlich seien sie keine rundum glücklichen Leute, sagte
Geoff Barrow in einem frühen Interview. Dafür seien die
gesellschaftlichen Umstände, gerade in Großbritannien,
zu schwierig und zu desolat.
Das war zu einem Zeitpunkt, als die Auswirkungen der rücksichtslosen
turbo-kapitalistischen Thatcher-Ära gerade in traditionellen
Industrie- und Arbeiterstädten wie Bristol am deutlichsten sichtbar
wurden. Der Sound der Band korrespondiert nach eigenem Bekunden folglich
eher mit den äußeren Bedingungen als mit der inneren Realität
ihrer Mitglieder, obgleich das empfindsame Gespür, mit dem eine
Beth Gibbons diese gesellschaftlichen Verhältnisse wahrnimmt,
damit natürlich nicht in Frage gestellt wird.
Dennoch:
Auch für Portishead gibt es keine Regel ohne Ausnahme. 1998 flog
die wenig reiselustige Band nach New York, quartierte sich dort in
einem Ballsaal ein und gab ein Konzert, das mittlerweile Legende ist.
Sie ließen es sogar zu, von einem ganzen Kamerateam gefilmt
zu werden. Der Mitschnitt des Konzerts ist unter dem Titel "Roseland
NYC" als CD und VHS-Video bereits seit einiger Zeit erhältlich,
erscheint aber in diesem Mai endlich auch als DVD mit einigem Bonus-Material,
darunter auch die Video-Clips zu den Singles der Band (Numb, Sour
Times, All mine, Over und Only you), die man nach ursprünglicher
Band-Meinung ja eigentlich gar nicht sehen sollte ...
Doch
im Mittelpunkt steht natürlich das einzigartige Konzertereignis
selber, das Portishead in Höchstform zeigt. Begleitet wird die
Band von einem dreißigköpfigen Orchester unter der Leitung
von Nick Ingman, der gemeinsam mit Adrian Utley auch für die
Arrangements verantwortlich zeichnet. (Für
Details zu "Roseland NYC" hier klicken !)
Eine kurze
Rückmeldung gaben sie überraschenderweise für den Pop-Veteranen
Tom Jones, an dessen "Reload"-Album sie mit einem Stück
beteiligt waren. Beth Gibbons produzierte inzwischen mit Paul Webb
(Talk Talk) alias "Rustin Man" ein Solo-Album namens "Out
of season". Deutschland-Start des Werks war Februar 2003. Das Projekt ist mit den bisherigen Portishead-Alben kaum
vergleichbar. Gibbons verzichtete zwar nicht auf einige ihrer Weggefährten
(Adrian Utley, Nick Ingman), aber doch fast vollständig auf Beats
und Computertechnik. "Out of season" stellt vor allem ihre
stimmlichen Qualitäten in den Vordergrund.
Portishead
haben trotz ihrer ausgedehnten Pause nichts von ihrer Faszination
verloren. Im Gegenteil: Die Rückkehr klingt umso gewaltiger, "Third" ist ein bahnbrechendes Album, für das aktuelle Jahrzehnt unter Umständen ähnlich prägend und herausragend, wie es "Dummy" und "Portishead" in den 90er Jahren waren. Selbst diese beiden Alben, obgleich mittlerweile schon einige Jahre alt,
sind aktuell wie eh und je, und erst heute wird die Zahl derer, die
sich an ihrer Musik orientieren, erkennbar. Doch inzwischen ist Portishead selbst schon weiter zwei Schritte voraus - mindestens, denn wirklich eingeholt wurden sie eigentlich nie.
©
Michael Frost, 01.05.2002 / Update: 27.4.2008
Fotos: www.portishead.co.uk