Manche
skandinavische Musiker gefallen sich in ihrer Hinwendung zur Trollen
und Erdgeistern, die irgendwo in Wäldern und Erdhöhlen, unter
Steinen oder unseren Städten wohnen. "Under Byen" (Unter
der Stadt) heißt entsprechend eine verschrobene Band aus Dänemark,
doch die repräsentiert augenscheinlich nur die eine, dunkle Seite
der nordischen Seele. Denn Kari Bremnes, Norwegens eleganteste und kultivierteste
Sängerin, kontert nun mit einer direkten Entsprechung: Sie nennt
ihr neues Album "Over en by" - Über einer Stadt.
Und
mit behender Leichtigkeit zaubert sie gleich den passenden Sound zum
Motto. Im Titelsong geht es darum, eine Stadt - Oslo - von oben zu
betrachten und dadurch die Relationen des Daseins neu zu erleben.
Keine Frage: das Thema ist nicht neu, Reinhard Mey fand dazu schon
in den 70ern Textzeilen, die jedes deutsche Kind kennt, doch bei Kari
Bremnes klingt das alles viel schöner und keineswegs abgedroschen.
Kari
Bremnes hat immer eine eigene Sicht auf die Dinge und eine Neugier,
die viele Erwachsene längst verloren haben, und einen einfühlsamen
Blick auf menschliche Stärken und Schwächen, inklusive der
eigenen. Der klare Blick rührt vielleicht aus ihrer Kindheit:
Kari Bremnes kam auf den Lofoten zur Welt, weit außerhalb des
urbanen Norwegens. Mag sein, dass es die Jugend in der Randlage und
die landschaftliche Prägung sind, die ihr heute einen distanzierten,
oft auch kritischen Blick aus der Vogelperspektive auf die moderne
Gesellschaft ermöglichen.
Parallel
zur Veröffentlichung ihres vierzehnten Albums feiert Kari Bremnes
in diesem Jahr ihren fünfzigsten Geburtstag. Die Lebenserfahrung
merkt man ihren Liedern an, die Lebensjahre nicht. Und doch erschien
ihre erste LP bereits 1981, von da an stieg sie zu einer der bedeutendsten
Musikerinnen Norwegens auf. 1989 schrieb sie erstmals eigene Texte,
und ihr Album "Spor" (1991) enthielt erstmals eigene Kompositionen.
Im
selben Jahr erhielt Kari Bremnes auch zum ersten Mal die norwegische
Grammy-Entsprechung, "Spellemannprisen".
Für
"Over en by" wurde sie erneut nominiert, übrigens in
der Kategorie "Viser", was wohl wirklich dem etwas aus der
Mode geratenen Wort "Weise" entspricht. Tatsächlich
sind es Weisen, die Kari Bremnes vorträgt, kleine, drei-
bis fünfminütige Lieder in vollendeter Harmonie zwischen
Erzähler und Erzähltem, sparsamer, manchmal fast nüchtern
wirkender Instrumentierung, nur eben soviel, dass damit der Gesang
und die Stimmung des Textes untermalt wird.
Es
ist vielleicht die erstaunlichste Fähigkeit von Kari Bremnes,
dass sie all dies vermittelt, ohne dass man ihre Texte versteht. Ihr
Album "11 ubesvarte anrop" hatte sie noch in einer norwegischen
und einer englischsprachigen Version veröffentlicht, letztere
für den internationalen Markt, doch damit ist jetzt Schluss.
"Over en by" besteht ausschließlich aus Songs, die
sie auf Norwegisch singt, und siehe da: es funktioniert.
Ihr
Publikum ist sowieso längst reif für die Originalversionen,
und da das Booklet sogar deutschsprachige Übersetzungen aller
Texte bereit hält, gibt es nun sogar die Chance einer doppelten
Entdeckung: Kari Bremnes, die Sängerin - und Kari Bremnes, die
Dichterin, die in schnörkelloser, klarer Poesie Alltagsepisoden
und Gedanken festhält und oft schon durch die Wortwahl so viel
Atmosphäre schafft, dass es zusätzlicher musikalischer Arrangements
gar nicht mehr bedürfte.
Zusätzlich
dient der Klang der Sprache als eigenständiges Instrument. Spätestens
hier treffen sie sich dann wieder, die über der Stadt schwebenden
und die unter ihr lebenden Geister: auch Under Byen weigern sich beharrlich,
ihre Texte zugunsten der internationalen Vermarktung auf Englisch
zu singen. In beiden Fällen ist eine Entscheidung gegen die Beliebigkeit
- und für die Kunst.
©
Michael Frost. 02.03.2006