Man darf Anna Ternheim inzwischen als Phänomen bezeichnen. Denn gemeinhin fallen Künstler, deren Musik so sehr zwischen den Stühlen angesiedelt ist wie in ihrem Fall, durch jedes Raster und erreichen bestenfalls ein Nischenpublikum. Anna Ternhein hingegen ist ein Star. In Stockholm füllt sie mühelos auch größere Konzerthallen, ihre Alben stehen an der Spitze der Charts, und "Leaving on a mayday", überhaupt erst ihr drittes Werk, sahnte bereits die wichtigsten Musikpreise ab.
Anna Ternheim gehört sicher zur illustren Zunft der "Singer/Songwriter", angesichts ihres Erfolgs gilt sie allerdings als Pop-Künstlerin, doch ihre Alben werden international von der Jazz-Abteilung des Major-Labels Universal vermarktet. Ein Phänomen eben, das nicht verständlicher wird, wenn man in die Musik hineinhört.
Im Gegenteil: "Leaving on a mayday", ein herrlich zweideutiger Albumtitel, beginnt mit einer bittersüßen Liebeserklärung ("What have I done"): "You are my everything // my head, my heart, my mind, my wing // I could give all again // I'm never short of anything with you", die sie überraschend mit pumpendem Beat, Backgroundchor und Streichquartett unterlegt - und prompt wähnt mancher Kritiker sie bereits voreilig im Mainstream.
In der zuvor via Internet veröffentlichten Rohversion, in der Anna Ternheim sich allein von ihrem Produzenten Björn Yttling am Klavier begleiten lässt, wird aus dem sehnsuchtsvollen Popsong eine Ballade von atemberaubender Intimität (s. Videolink im Anna Ternheim-Porträt), obwohl sie ihre Stimme kaum verändert.
Überhaupt: Anna Ternheims absolute Stärke ist ihr scheinbar regungsloser Gesang. Sie vermeidet jeden Anflug von Sentimentalität, aufgesetzter Dramatik, schwülstigem Pathos oder Weinerlichkeit. Fast distanziert wirkt sie, selbst in Momenten größter Verletztheit: "From the doorway // watching you sleep // Before you wake up // Not when you eat // Keep it straight // Wipe your mouth // Keep it down // Rose, don't shout // What can I do // I'm losing you".
Mehr noch als auf ihren vorigen, nicht minder hoch gelobten Alben, nähert Anna Ternheim sich mit "Leaving on a mayday" einem Soundkonzept, das, obwohl es komplett auf digitale Elemente verzichtet, auch Fans von Triphop und Downbeat gefallen dürfte. Die kühl wirkende, unter der Oberfläche jedoch brodelnde Hitze ihrer Songs hat sie mit Portishead-Sängerin Beth Gibbons gemein - ohne jedoch deren verzweifelte Zerbrechlichkeit zu teilen.
Denn darin wiederum ist Anna Ternheim eine typische Skandinavierin: Selbstbewusst und selbstständig, sehr reif und erwachsen, reflektiert und ihren männlichen Kollegen in vielerlei Hinsicht überlegen. Dass Kolleginnen wie Nina Kinert und Ane Brun mit ihr gemeinsam das wunderbar melancholische "Summer Rain" in einer gemeinsamen "a cappella"-Version aufnahmen, darf man getrost als Hommage bezeichnen.
Videolink: Anna Ternheim "Summer rain" (a cappella Version mit Nina Kinert, Ane Brun, First Aid Kit and Ellekari Larsson) Quelle: youtube
Inzwischen traut sie sich sogar, es mit den ganz Großen aufzunehmen: In Schweden erschien "Leaving on a mayday" in einer limitierten Auflage mit der Bonus-CD "Anna Ternheim sings Sinatra" (!). Für Musikliebhaber, die tiefer in die Welt der Anna Ternheim einsteigen möchten, ist dieses Experiment vermutlich sogar die interessantere CD - wie bereits vorher bei "Somebody outside" und "Separation road": Erst auf den in limitierten Versionen beiliegenden "Naked versions" entfaltete Anna Ternheim ihre ganze magische Kraft.
Und gleiches gelingt ihr auch mit den Sinatra-Songs. Esist, als würde Anna Ternheim die Originale entzaubern: "New York New York" und "Strangers in the night" klingen nackt und roh, als hätte man sie ausgezogen. Dies ist wohl ihre größte Stärke: Niemals dient irgendein schmückendes Beiwerk der Verschleierung oder der Ablenkung, niemals verliert sie den Kern, das Seeleninnere der Lieder, die sie singt, aus dem Fokus.
Insgesamt fünf Sinatra-Songs enthält die Extra-CD. "My way" ist vernünftigerweise nicht darunter. Das Lied wäre auch überflüssig. Denn dass Anna Ternheim ihren eigenen Weg gefunden hat, steht längst außer Frage, und die wichtigste Strecke liegt noch vor ihr.