Suchen nach:
In Partnerschaft mit Amazon.de

 

 

Seltsame Symphonie
der Postmoderne


Island, du hast es besser. Einerseits hängt keine Nation der Welt so häufig im Internet, während sie sich andererseits jedoch eine ebenso verschrobene wie unverwechselbare Eigenart bewahrt, die nirgendwo sonst entstehen kann.

Längst weiß man, dass diese Besonderheiten auch für die Musikkultur der Nordmeerrepublik gilt, und daher auch für das neue Album von Múm, einer Band, die längst über den Status des Geheimtipps hinausgewachsen ist, und die mit ihrem neuen, überraschend ausgereift klingendem Album "Go go smear the poison ivy" noch für einige Furore sorgen dürfte.

Im Gegensatz zu ihren Kollegen Sigur Rós, deren sphärischer Postrock bisweilen tief in der nordischen Mythologie zu wurzeln scheint, oder Björk, deren Musik globale Ausmaße angenommen hat, war die Welt für Múm bislang eher ein Spielplatz, für dessen Spielgeräte sie selber sorgten. Versponnener Mädchengesang, merkwürdiges Pianogeklimper und Computerstörgeräusche, scheinbar zufällig und ohne nachvollziehbaren Zusammenhang ineinander gemixt, machten den skurrilen Charme des einstigen Quartetts aus, verbunden mit unverständlichen Song- und Albumtiteln.

So ungefähr stellt man sich die Hausmusik bei den Trollen und Elfen vor, die dem Klischee nach außerhalb von Reykjavik unter jedem Felsblock leben und einer gern zitierten Legende zufolge die Bauverwaltung zu Umgehungsstraßen zwingen, weil man sie nicht umsiedeln darf.

Doch das neue Album ist anders, nicht nur, weil nach ihrer Zwillingsschwester auch die zweite Sängerin Kristín Vlatýsdóttir vor seiner Produktion von Bord gegangen waren und die verbleibenden Soundtüftler Gunnar Örn Tynes und Örvar Þóreyjarson Smárason daher zu einer stärkeren Fokussierung auf die Instrumentalmusik gezwungen waren.

Múm haben die Weite für sich entdeckt. Es ist nicht mehr die stille Frickelei im kleinen Kämmerlein, die ihre Musik ausmacht, sondern der Blick in die Weite der Landschaft, die Lautmalerei, die atmosphärische Ausmalung eines grandiosen Panoramas, bisweilen fast naturalistisch, wie im epischen Schlusstitel "Winter".

Damit nähern sie sich dem Konzept von Edward Grieg bis Sigur Rós, aber aus anderem Blickwinkel. Die Computer bleiben, auch die verspielten Elemente, doch zu ihnen gesellen sich Trompeten- und Gesangschöre, Streicher, und vor allem melodische Verknüpfungen, Harmonien, die das Album zu einem Ganzen zusammen wachsen lassen, zu einer nicht in einzelne Titel oder Ideen aufspaltbaren Gesamtheit, die sich der Mittel des digitalen Zeitalters bedient, indem sie elektronische Klänge in sich aufnimmt, sich andererseits aber der kleinteiligen Vermarktung von Klingeltönen und Download-Singles entzieht, weil es nur dann funktioniert, wenn man, wie von einem großen Gemälde, einen Schritt zurücktritt, um die ganze Breite des Kunstwerks erfassen zu können.

So vielschichtig ist auch ihre Erzählweise, dass es der Band angemessen erschien, das Cover als offenen Rahmen zu gestalten, dem sie diverse Bildkarten beilegen ließen, die man nun nach eigenem Gusto in den Rahmen schieben kann. So entsteht das Album bei jedem Coverwechsel neu.

Seine Größe macht "Go go smear the poison ivy" zu einer seltsamen Symphonie der Postmoderne, so überraschend, vielschichtig und über die Maßen überzeugend und stilbildend, dass Múm künftig wohl nicht mehr nur nachrangig zu Björk und Sigur Rós genannt werden dürfen.


© Michael Frost, 30. September 2007

 


[Archiv] [Up]