Wir
erleben einen besonderen Moment in der an Höhepunkten sowieso
reichen Karriere von Madredeus, Portugals berühmtester Musikgruppe.
In ihrer Heimat sind sie Nationalheiligtümer. Mühelos füllen
sie die größten Konzerthallen von Lissabon und Porto über
mehrere Abende. Aber auch das Pariser Olympia haben sie gleich für
drei Konzerte gebucht, und Fans haben sie auf allen Kontinenten.
Der
große Moment besteht in der Veröffentlichung von "Movimento"
(Bewegung), dem neuen Album von Teresa Salgueiro (Gesang) und Pedro
Ayres Magalhães, José Peixoto und Fernando Júdice
(Gitarren) und Carlos Maria Trindade (Synthesizer). Mit diesem Album
hat das Quintett ein Niveau erreicht, das man mit gängigen Kriterien
kaum mehr beschreiben kann.
Fast
klassisch klingt, was wie aus höheren Sphären hinab auf
die CD gekommen zu sein scheint. Man hört, wie die Finger der
drei Gitarristen virtuos und Atem beraubend über die Saiten hüpfen,
um die komplizierten und keinesfalls eingängigen Melodien vorzugeben,
von denen keine den typischen Grundmustern des "3-Minuten-Pop"
folgt. Dazu gesellen sich die im ersten Moment irritierenden Synthesizer-Klänge,
die man zur klassisch-akustischen Atmosphäre nicht so recht für
passend hält, und doch entpuppen sie sich als bestens geeignete
Unterstützer der Dramaturgie von "Movimento". Mal klingt
bedrohend, mal verspielt und leicht, was die fünf zusammen entwickelt
haben, und über allem schwebt die sanfte, glockenklare Stimme
der - man kann es nicht oft genug schreiben - engelsgleichen Teresa
Salgueiro, als sei sie nicht von dieser Welt.
"Movimento"
geht weit über das übliche Maß dessen hinaus, was
man ansonsten als portugiesische Folklore oder Fado zu kennen glaubt.
und stößt mit einer Spieldauer von 77 Minuten nicht nur
quantitativ an die Grenzen dessen, was das Medium CD zu transportieren
in der Lage ist.
Die Gruppe hat ein akustisches Kunstwerk geschaffen, wahrlich keine
leichte Kost, weil jedes einzelne Lied mit all seinen Schichten vom
Hörer regelrecht erobert werden will: Gleich einem Stück
Weltliteratur, an dessen Sprachfertigkeit man sich auch erst gewöhnen
muss, bis man schließlich die ganze Schönheit des Werks
begreifen kann, entfaltet sich "Movimento" erst, wenn man
das Album mehrfach - und mit absoluter Aufmerksamkeit - gehört
hat.
Keinesfalls
sollte man dabei die Texte vernachlässigen (engl. Übersetzungen
im Booklet), in denen es immer um Sehnsucht geht: Sehnsucht nach Liebe
und Leidenschaft, Sehnsucht nach Verständnis, Sehnsucht nach
Zukunft, Sehnsucht nach dem Meer ... "Saudade", wie sie
in dieser Welt tatsächlich nur in Portugal entstehen und zu solch
kunstvoller Perfektion gedeihen kann. Ein wirklich bewegendes Ereignis.
©
Michael Frost / 28.04.2001
Foto: nuzzcom