Wie
viele Jahre haben wir auf diesen Tag gewartet ? Elf, um genau zu sein.
Elf lange Jahre. Nicht einmal das überraschende Intermezzo "Peace"
konnte die Erwartungen stillen. Denn seit "Diva", ihrem
prachtvollen Solo-Debüt von 1992, ist Annie Lennox nochmals in
höhere Sphären aufgestiegen, als sie diese als Hälfte
der "Eurythmics" jemals hätte erreichen können.
Und
so warten wir seit "Diva" auf einen würdigen Nachfolger.
"Medusa", ihr zweites Album, das sie 1995 veröffentlichte,
haben wir ihr längst verziehen. Die zum Teil recht verunglückten
Cover-Versionen von Bob Marley- oder Talking Heads-Klassikern enttäuschten,
doch unsere Verehrung für Britanniens größte Popgöttin
konnten sie nicht erschüttern.
Wir
warteten weiter, geschlagene acht Jahre, bis heute, auf eine Annie
Lennox, die es wahrscheinlich schon seit Jahren nicht mehr gibt, denn
im Gegensatz zum Klischee unterliegen reale Wesen der Veränderung.
Und dass Annie Lennox real ist, daran kann natürlich kein Zweifel
bestehen.
Die
Diva ist von ihrem Sockel gestiegen, und da steht sie jetzt, nackt
und bloß, mit weißem Kalk bedeckt, vor ihrem betroffenen
Publikum und singt schaurige Sätze wie: "Loneliness is
a place that I know well, it's the distance between us, and the space
inside ourselves". Herbert Grönemeyer fand jüngst
ähnliche Worte: "Das Nichts steckt in jedem Detail, in
mir sind alle Zimmer frei - Ich fühl mich unbewohnt".
Auch
Annie Lennox hat schwierige Zeiten hinter sich. Anders als Grönemeyer
muss sie in ihren neuen Liedern nicht den Tod des geliebten Partners
verarbeiten, sondern das schmerzvolle Entschwinden einer langen Liebe
bis zum endgültigen Bruch der Beziehung. Aber Abschied und Tod
sind Geschwister: "Everytime we say Goodbye I die a little"
- schon 1990 hatte sie ausgerechnet dieses Lied für ein Cole
Porter Tribute-Projekt ausgewählt.
Dennoch:
Kein Ende ohne Neubeginn. Annie Lennox zerfließt nicht im Selbstmitleid.
Sie verarbeitet das Geschehene und blickt nach vorn. Zaghaft und vorsichtig,
aber spürbar. Die Musik hilft ihr, Gefühle in Worte zu fassen.
Die
Popmusik erfindet sie dabei nicht neu. Das hat sie nie getan. Und
manche ihrer Kompositionen wirken recht konventionell und wenig innovativ,
manchmal sogar vorhersehbar und nicht besonders aufregend. Andere,
weniger charismatische Sängerinnen, würden mit diesem Material
sang- und klanglos untergehen. Nicht aber Annie Lennox. Ihre Stimme
überdeckt jeden Anflug von Langeweile. Wird der Sound flach,
dreht sie erst richtig auf. Und manche Perle erschließt sich
sowieso erst nach mehrfachem Hören. "The Hurting Time"
gehört dazu, auch "The Saddest Song I've got" oder
"Erased".
Endlich
können wir beruhigt in die Kissen sinken. Zwar haben wir nicht
explizit auf diese Annie Lennox gewartet, aber dadurch, dass
sie die Aura der Diva zerstört, um fortan nur noch Mensch zu
sein, "bare" - ungeschminkt, fehlbar und verletzlich wie
wir alle -, sind wir ihr näher denn je.
©
Michael Frost, 11. Juni 2003