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Auf den Kopf gestellt


Jay-Jay Johanson sitzt entspannt auf einem umgestürzten Baumstamm, umgeben von frühlingsgrünen Blättern und sanft schimmernder Sonne, am Ufer eines Sees. Ein (schwedisches?) Urlaubsidyll, möchte man meinen und wundert sich: so locker sah man den "coolsten Dandy der Welt" (Pressetext) noch nie. Auf dem Cover seines vorigen Albums "Antenna" hatte er sich noch mit streng geschnittener und rot gefärbter Frisur präsentiert, das Gesicht kalkweiß - ein Foto zum Kindererschrecken.

Man wird also umdenken müssen, um Jay-Jay Johanson gerecht zu werden, und zwar nicht nur in optischer Hinsicht. Musikalisch wies "Antenna" bereits in die Richtung, die "Jay-Jay" (abgeleitet von seinem schwedischen Spitznamen Jaejae) mit "Rush" fortsetzt. Die Abkehr von den Jazz- und Triphopeinflüssen, mit denen er seine Karriere begann, scheint nunmehr endgültig vollzogen. Johanson, der in den vergangenen Jahren immer wieder auch als DJ durch die Welt zog, hat seine Begeisterung für Discosounds entdeckt und dafür seine Karriere auf den Kopf gestellt.

Kühler Elektropop bildet die Grundlage von "Rush", auch wenn der Titelsong selbt von ganz anderem Kaliber ist: eine elegische, trotz Johanson-typischer Melancholie sehr harmonische und warme Ballade, die bereits den Einfluss der französischen Popszene auf Johansons Sound deutlich werden lässt: die elektronischen Elemente könnten auch von Air abgemischt worden sein.

Frankreich ist für Jay-Jay Johanson zur zweiten Heimat geworden. Er lebte zwischenzeitlich in Straßburg, legt in Pariser Discos auf und saugt den Sound von Bands wie Air und Daft Punk, um nur die bekanntesten zu nennen, in sich auf. "Rush", aufgenommen in Stockholm und Paris, ist die konsequente Entsprechung der aktuellen Szene, nicht als Kopie immerhin, sondern schon aufgrund der einzigartigen, immer in der Nähe des Falsett angesiedelten Stimme Johansons von unverwechselbarem Ausdruck.

Videolink: "Rush" / Quelle: youtube
 

Zugegeben: Manch einem wäre es wohl lieber, Johanson hätte den Weg seiner von Chet Baker beeinflussten Jazz-Songs ("Whiskey", "Tattoo") oder der düsteren Triphop-Sounds ("Poison") weiter verfolgt. Denn sein sinistres Charisma, der stechende Blick, die Gänsehaut-Stimme, all das schien eigentlich wie gemacht für seine bisweilen morbiden Soundcollagen, wie sie auf "Rush" nur noch vereinzelt aufblitzen.

Doch Johanson kontrastiert 'Rückfälle' wie "100.000 Years" kurz darauf mit einem instrumentalen Dancefloor-Knaller und dem als zweite Single-Auskopplung geplanten "Because of you", ähnlich leicht, cool und verspielt wie der Elektro-Ausflug seines norwegischen Kollegen Erlend Øye (Kings of Convenience) oder Röyksopp.

Die Frage, ob Jay-Jay Johanson mit seiner Focussierung auf die Elektropop-Avantgarde endgültig zum eigenen Sound gefunden hat, muss letztlich gar nicht beantwortet werden. Für Überraschungen sorgte in der Vergangenheit nicht nur sein Frisör, und da er seine im vergangenen Jahr veröffentlichte Best-of-Compilation selbstbewusst "Prologue" betitelte, steht zu vermuten, dass er den eigenen Standort erst als Beginn des eigentlichen Wegs sieht.

© Michael Frost, 17. September 2005


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