Er
ist wieder da - und wie ! Herbert Grönemeyer, seit dem tragischen
Tod seiner Frau und seines Bruders vom Schicksal hart geprüfter
Star, ist zurückgekehrt. Nach dem Abschluss seiner verschobenen
Tour gab er im Juni 2000, begleitet vom NDR-Hannover Pops-Orchestra,
zwei Konzerte im Rahmen des Kulturprogramms zur Weltausstellung in Hannover.
Was
auf den ersten Blick vielleicht anmuten könnte wie ein neuerlicher
Aufguss der immer weniger originellen Pop-goes-Classic-Serie, entpuppt
sich bei Grönemeyer als wahres Feuerwerk musikalischer Originalität
- so gut war die deutsche Popmusik lange nicht - vielleicht überhaupt
noch nie.
Grönemeyer
präsentiert sich auf "Stand der Dinge" in absoluter
Höchstform. Er singt, schreit und krächzt, springt von der
Bühne und hetzt durch die Ränge, jawohl - er tanzt sogar
- ein Musiker voller Energie und voller Ideen, der mit einem restlos
begeisterten Publikum kommuniziert, das die Rückkehr ihres Stars
mit La-Ola-Wellen feiert.
Seine
Klassiker "Bochum", "Männer" und "Alkohol"
präsentiert er als fetzende Gitarrenrock-Songs, die das Publikum
binnen weniger Sekunden von den Sitzen reißen. Was er hier allein
stimmlich leistet, ist angesichts seiner früher oft unverständlichen
Nuschelei eine wahre Überraschung: Jedes Wort klingt wie ein
Befreiungsschlag.
Auf
den zahlreich vertretenen neueren Stücken wie "Nach mir"
und "Bleibt alles anders", aber vor allem bei "Fanatisch"
und "Schmetterlinge im Eis" kommt das Symphonieorchester
zur vollen Entfaltung. Nick Ingman, der schon die Streicher-Arrangements
für Portisheads "Roseland NYC" schrieb, leistete auch
bei Grönemeyers Kompositionen ganze Arbeit: Klassische Instrumente
müssen nicht zwangsläufig altbacken, kitschig und feierlich
klingen.
Statt
dessen unterstreichen die ungewöhnlichen, Ambient- und Triphop-orientierten
Arrangements Ingmans die Einheit von Text und Komposition, letztlich
genau das, was Grönemeyer von Album zu Album immer besser gelungen
ist, zuletzt auf "Bleibt alles anders", seiner bislang,
was die stilistische Umsetzung angeht, "internationalsten"
Platte.
"Stand
der Dinge" ist, wie beschrieben, ein musikalisch mitreißender
Hochgenuss, der die besondere Atmosphäre des Konzerts in die
heimischen Stereoanlagen überträgt. Doch dazu tragen erwartungsgemäß
auch die Texte bei. Die besondere Qualität der Texte etwa von
"Halt mich", "Land unter", "Bleibt alles
anders" oder "Flugzeuge im Bauch" wird auch hier wieder
unter Beweis gestellt - und für einen Text wie den von "Heimat"
sollte Grönemeyer endlich auch mal ein Literaturpreis verliehen
werden.
Und
letztlich ist "Stand der Dinge" für die Redaktion von
CD-Kritik.de das Album des Jahres, weil es Weg weisend
ist für die Weiterentwicklung des Mediums "CD". Grönemeyer
hat "Stand der Dinge" nämlich als so genannte "DVD
plus" veröffentlicht, als Doppel-DVD bzw. -CD, so dass man
das Konzert entweder audio über den CD-Spieler hören oder
über den DVD-Spieler auch sehen kann. Ergänzt um zahlreiche
Extras (u.a. Karaoke-Versionen von "Halt mich", "Alkohol",
frei wählbaren Kameraperspektiven bei "Fanatisch" und
"Vollmond", außerdem Akkorde, Partituren und Backstage-Führung
durch Grönemeyer selbst) wird "Stand der Dinge" zum
multimedialen Gesamtkunstwerk, das die technischen Möglichkeiten
von CD und DVD nahezu ausreizt und sicher ein Vorbild für ähnliche
Experimente anderer Musiker sein wird.
"Heimat",
singt Grönemeyer, "ist kein Ort; Heimat ist ein Gefühl".
So gesehen kann auch eine DVD Heimat sein. Und diese bestimmt.
Michael
Frost / 30. Dezember 2000