Mit
"Paper Monster" habe er sein Talent unter Beweis gestellt.
So wird Dave Gahan dieser Tage häufig zitiert. Der Satz überrascht
und irritiert. Immerhin ist Gahan seit zweiundzwanzig Jahren der Leadsänger
von Depeche Mode, einer der weltweit erfolgreichsten und einflussreichsten
Rockbands überhaupt. Niemand, der in den vergangenen Jahren das
"Talent" des Trios ernsthaft hätte anzweifeln können:
Depeche Mode sind schon lange über jeden Verdacht erhaben.
Doch
die Wahrheit ist komplizierter. Dave Gahan ist zwar die Stimme von
Depeche Mode, aber nicht der Kopf. Die Songs stammen nämlich
fast ausschließlich aus der Feder von Martin L. Gore. Er ebnete
den Weg von Depeche Mode vom Synthiepop der 80er zum Stadionrock von
heute - und Gahan, so scheint es, folgte bislang widerspruchslos.
Insofern
ist "Paper Monsters" mehr als nur das Solo-Debüt von
Dave Gahan: es ist sein persönlicher Befreiungsschlag. Dennoch
bleibt der Bruch mit Depeche Mode aus. Ruhige, atmosphärische
und lautmalerische Schwingungen, die Gahan gemeinsam mit Produzent
Ken Thomas (Sigur Rós) und Multiinstrumentalist Knock Chandler
entwickelte, beherrschen die Szenerie des Albums. Den melancholischen
Grundton von Depeche Mode beherrscht Dave Gahan also auch allein -
die treibenden, latent aggressiven Rhythmen wie bei "Bottle Living"
allerdings auch - und den markanten, eindringlichen Gesang sowieso.
Dass
aber die ungeheure Energie seiner Stimme auf "Paper Monsters"
nochmals wie aufgeladen wirkt, ist die eigentliche Überraschung
von "Paper Monsters". Selten in der Vergangenheit klang
Gahan so nah und intim wie etwa bei "Stay", nur einem von
vielen unter die Haut gehenden Momenten auf dem Album.
Die atmosphärische Dichte ist einerseits Ergebnis der detailverliebten
und punktgenauen Arrangements. Andererseits ist die enge Beziehung
des Autors Dave Gahan zum Inhalt seiner Musik allgegenwärtig.
In
den Texten reflektiert er, teils ernst, teils ironisch, Versatzstücke
der eigenen Vergangenheit. Gahan ist ein Überlebender, der sich
nach jahrelanger Selbstzertörung aus eigener Kraft aus dem Sumpf
befreite und sein Leben seither bewusster lebt und genießt.
Sein Reifeprozess hat in der Vergangenheit Depeche Mode gut getan
und jetzt wohl auch sein Solo-Debüt beflügelt.
Also
schiebt er der weiterhin seltsamen Erkenntnis des eigenen "Talents"
dann und wann schon mal die Aussage hinterher, Martin Gore werde ihn
bei der künftigen Zusammenarbeit nicht mehr einfach übergehen
können. Das wäre wohl auch nicht vernünftig. Gahan
verfügt über genug Energie, um nicht nur sich selbst, sondern
auch seiner Band noch einmal einen kräftigen Schub zu geben.
©
Michael Frost, 9. Juni 2003