Wer
seine CD-Sammlung nach Genres sortiert, ob als Plattenladen oder auch
zu Hause, wird mit Efterklang ein Problem haben. Wohin mit "Parades",
dem zweiten Album der fünfköpfigen Band aus Dänemark?
Wohlgemerkt: Es geht dabei nicht um die Wahl zwischen Mainstream und
Alternative, sondern um weit mehr. Nämlich um die Frage, ob es
sich überhaupt noch um Pop (im Sinne von Populärmusik) handelt,
ob wir es hier mit zeitgenössischer Klassik zu tun haben - oder
vielleicht mit etwas ganz anderem.
Efterklang
erkunden mit ihrem - so viel sei vorab gesagt - über die Maßen
spektakulären Album - die Grenzen zwischen avantgardistischem
Pop, experimenteller Klassik und bildender Kunst. Sie führen
damit einen Weg fort, den Bands wie Radiohead mit "OK Computer"
und mehr noch "Kid A" anbahnten, indem sie ihren Gitarristen
über weite Albumstrecken arbeitslos machten und die konventionelle
Rockmusik dadurch überwanden, dass sie andere Harmonien und Instrumente,
natürlich auch elektronische Klänge, in den Vordergrund
rückten. So konnten sie neue, oft sehr bildliche und assoziative
Sprache in die Musik einführen.
Gerade
in den nordischen Ländern fand die Idee, Bilder durch Musik zu
suggerieren und Rockmusik ohne Rockgitarre zu produzieren, auffällig
viele Anhänger. Sigur Rós setzen die E-Gitarre überwiegend
als Streichinstrument ein, Björk verschanzte sich gleich mit
ihrem Laptop im Studio, um anschließend mit einem ganzen Symphonieorchester
auf Welttournee zu gehen, woraufhin sie später jeglichen Instrumenten
den Laufpass gab. Múm verzückten gerade erst wieder ("Go
go smear the poison ivy") mit digitaler Klangfrickelei, Under
Byen mit den verwunschenen Traumphantasien von Henriette Sennenvaldt,
singenden Sägen und donnernder, weil doppelt besetzter Schlagwerk-Abteilung.
Demnächst
wird an dieser Stelle von den poetischen Etüden des Olafur Arnalds
zu lesen sein - die Liste könnte fortgesetzt werden, und sie
wird bereits fortgesetzt, am deutlichsten und besonders konsequent
von Efterklang.
Schon ihr Debütalbum "Tripper" war ein Kraftakt, und
auch jetzt waren nicht weniger als dreißig Musiker an dem sich
über achtzehn Monate erstreckenden Aufnahmeprozess beteiligt,
darunter ein Streichquartett, ein Bläserquintett und drei verschiedene
Chöre. Sie ersetzen die Dominanz des Digitalen, die noch auf
"Tripper" herrschte.
Bereits
der Auftakt mit "Polygyne" klingt wie ein Experiment aus
dem Orchestergraben. Geigen, Bläser und Computer spielen sich
langsam warm, bis ein klassischer, sehr elegischer und fast religiös
wirkender Choral beginnt. Nur langsam wird das Stück lauter,
die Stimmen abgehackt, ein verstörendes Staccato von Bläsern,
gezupfter Gitarre, dröhnenden Pauken und vielstimmig übereinander
gelegten Chorstimmen setzen ein, um alsbald von Klavier und rhythmischem
Klatschen abgelöst zu werden. Doch bis dahin wird der Pulsschlag
deutlich schneller, die eruptive Spannung höher, das Nerven zerreißende
Neben- und Gegeneinander der Instrumente und Stimmen nochmals gesteigert.
In
unterschiedlicher Klangfärbung ("Mirador" etwa kontrastiert
den schwebenden Klang von Harfe und Klavier mit einem lärmenden
Spielmannszug) repetieren Efterklang ihr ungewöhnliches Konzept.
Mit einer beispiellosen Detailliebe, die an Versessenheit zu grenzen
scheint, komponieren und arrangieren sie die Heerschar der musikalischen
Begleiter und schaffen es sogar, dass "Parades" bei aller
Opulenz zu keinem Zeitpunkt überfrachtet oder ausufernd klingt.
Trotz der kalkulierten Komplexität des Albums stehen sein emotionaler
und atmosphärischer Ausdruck völlig außer Frage.
Efterklang
folgen mit der wohl überlegten Wirkung ihres Ausdrucks einem
künstlerischen Konzept, das auf kongeniale Weise auch in der
Coveroptik durchgehalten wird. Die Kopenhagener Designer Hvass &
Hannibal und UFEX gestalteten "Parades" nach einem Motiv
des niederländischen Grafikers M.C. Escher (1898-1972), dessen
Bilder von optischen Täuschungen (berühmt wurde u.a. seine
"Unmögliche Treppe") als "mathematisch durchdachte
Gedankenbilder' mit suggestiver Wirkung" bezeichnet werden,
deren "verschiedene Beobachtungsebenen in einer einzigen Raumperspektive"
vereint wurden, "oft als endlose Muster, die sich aus regelmäßigen
Wiederholungen geometrischer Grundfiguren zusammensetzen" (ZEIT-Lexikon).
Efterklang
gelingt mit "Parades" die musikalische Umsetzung dieser
Idee aus der bildenden Kunst. Auch die Grundfiguren ihrer Kompositionen
wirken wie kunstvoll geformt, einerseits natürlich und organisch,
andererseits in eine ästhetische Ordnung gebracht, mit der Naturgesetze
scheinbar aufgehoben werden: Was in der Kunst die Perspektive, ist
in der Musik die Harmonie - auch sie erzeugt bei jedem Hören
eine neue Suggestion.
Keine
Ahnung, wie solche Musik entsteht: auf dem Papier, bei Jam-Sessions,
am Klavier oder im Computer - die inszenierte Dramatik der Kompositionen
könnte kaum größer sein. Man ist überrascht und
überwältigt. - und nach dem Verklingen der letzten Töne
auch erschöpft. Man fühlt sich wie in dem Videoclip, den
Hvass & Hannibal/UFEX auf der Grundlage ihrer Album-Grafik für
das Stück "Mirador" entwickelten. Darin verlässt
der Protagonist die geometrische Welt des Albums mit einem rettenden
Fallschirm, doch nur, um nach einigen Umwegen durch weniger erbauliche
Welten nach "Parades" zurückzukehren.
Und
das wiederum erinnert an Eschers optische Täuschungen: seine
"Unmögliche Treppe" erlaubte ebenso wenig ein Entrinnen
wie das in jeder Hinsicht phantastische "Parades".
©
Michael Frost, 04. November 2007