Es
ist so ungerecht: Für das, was man Tracy Chapamn zu gute hält,
ihr sogar hoch anrechnet, würde man andere Künstler maßregeln,
kritisieren gar oder sie Grund und Boden schreiben. Doch man darf
Beständigkeit nicht mit Stillstand verwechseln, und im Falle
von Tracy Chapman geht es um Ersteres. Bei oberflächlicher Betrachtung
würde man nicht sagen können, ob dieser oder jener Song
wirklich so neu ist oder nicht vielleicht doch schon von einer ihrer
früheren Platten stammt, sogar die Albumoptik entscheidet sich
in ihrer Machart kaum von ihren frühen Karrierejahren: nur die
Haare sind länger geworden.
Es
ist, als ob die Zeit spurlos an Tracy Chapman vorüber gegangen
wäre, und in gewisser Hinsicht ist sie das wohl wirklich. Doch
was wäre aus ihr geworden, wenn sie sich dem Zeitgeist unterworfen
hätte?
Unbeirrt
geht sie den 1988 eingeschlagenen Weg weiter, verknüpft ihre
ungeschönten, engagierten und kritischen Geschichten mit leisen
Balladenklängen, Gesang und Gitarre im Mittelpunkt, der Rest:
nur Beiwerk?
Damit
würde man ihr nicht gerecht werden. Form und Inhalt bilden im
Werk von Tracy Chapman eine untrennbare Einheit. Leise Geschichten
kann man nicht schreien. Tracy Chapman zeigt in ihren Songs die kleinen
Alltagsgeschichten, Dinge, die niemals in der Zeitung stehen, weil
sie jeden Tag geschehen. Doch gerade diese Geschichten sind es, die
so viel über das Leben erzählen, und die Fähigkeit,
diese Geschichten einzufangen und in ihren Songs umzusetzen, macht
sie zu einer der größten Songschreiberinnen überhaupt.
Das
gilt auch für ihr neues Album "Where you live", über
das es sich nur schwerlich schreiben lässt, weil es - und das
ist im Falle von Tracy Chapman der Nachweis der Beständigkeit
- nichts wirklich Neues zu berichten gibt. Ihre Songs sind voller
Wärme, Zärtlichkeit und Verständnis für das Ringen
der Menschen um ihre Empfindungen. Ohne Bitterkeit, aber in fotorealistischen
Momentaufnahmen betrachtet sie gesellschaftliche Entwicklungen mit
ihren Auswüchsen von Einsamkeit, Verlassenheit und Ausgrenzung.
Zur
unverblümten politischen Anklage geriet jedoch das Stück
"America".
Nicht nur wegen des offensiven Titels der Schlüsselsong des ansonsten
sehr bedächtigen Albums. Einmal mehr geißelt Tracy Chapman
darin den unbewältigten Rassismus in den USA. "You ...
made us soldiers and junkies // prisoners and slaves // while you
were conquering America", heißt es, und man spürt
die Wut im Bauch einer Musikerin, die sowohl als Künstlerin wie
auch als moralische Instanz eine Ausnahmeerscheinung bleibt.
©
Michael Frost, 14.09.2005