Eigentlich,
so dachte man, ist über Tracy Chapman längst alles gesagt
und geschrieben worden: Begnadete Songwriterin, eine charismatische
Stimme, die nur von einer Gitarre begleitet emotionale Gefühlswallungen
produziert; außerdem die Texte, politisch engagiert, leidenschaftlich,
poetisch ... - Mit Zuschreibungen wie diesen ließen sich alle
früheren und wahrscheinlich auch alle künftigen Alben erklären,
so dachte man ...
Und
tatsächlich, auch für "Let it rain", ihr neues
Studioalbum, treffen diese Attribute zu, manche vielleicht mehr denn
je, denn Tracy Chapman hat ihre Erfahrungen stets in Musik umzusetzen
gewusst, sie ist spürbar gereift, sogar ihre Stimme hat nochmal
zugelegt, ist über die Jahre tiefer und fester geworden: Tracy
Chapman hat Soul.
Zwar
lässt sie sich den Blick nicht verstellen, voller Sarkasmus besingt
sie beispielsweise den Alltag der Mediengesellschaft, bei der Wünsche
und Bedürfnisse der Menschen nur noch "in Sitcom-Dialogen
und Werbeslogans" vorkommen ("Hard wired"), Ungerechtigkeit
in allen Facetten bleibt ihr beherrschendes Thema, doch der Grundton
der Musik ist warm und weich, für ihre Verhältnisse manchmal
geradezu fröhlich.
Sie
hat den Rhythmus für sich entdeckt, ihre Lieder haben jetzt erkennbare
Takte, manchmal sogar gegenläufige Beats, und sie arbeitet auf
"Let it rain" mit auffallend vielen unterschiedlichen Instrumenten,
als suche sie gezielt die Abwechslung: mit Erfolg.
Eine
einzelne Geige, eine verhaltene Oboe oder Klarinette, ein Vibraphon,
Akkordeon, ein bedrohlich wummernder Bass ("In the dark")
- das sind Instrumente, die man mit Tracy Chapman bislang nicht in
Verbindung gebracht hätte, doch gemeinsam mit ihrem Co-Produzenten
John Parish und den exzellenten Musikern gelingen ihr Arrangements
zwischen Blues, Gospel, Pop und Ballade, immer von klarer, reiner
Schönheit und übrigens auffällig hoher Klangqualität.
Fans
ihrer früheren Alben müssen dabei allerdings keine Angst
haben: Auf den typischen Klang ihrer Gitarre muss nicht verzichtet
werden. Bei allen Neuerungen geht Tracy Chapman, der Sensibilität
ihrer Musik entsprechend, so behutsam wie möglich vor, bleibt
ihren minimalistischen Prinzipien treu, und sich selbst sowieso.
©
Michael Frost, 19.10.2002