Als
Rose Kennedy, Matriarchin der wohl berühmtesten US-Familie mit
der zugleich tragischsten Geschichte, 1995 starb, war sie 105 Jahre
alt. Zu diesem Zeitpunkt war der in der Nähe von Lyon groß
gewordene Benjamin Biolay gerade zweiundzwanzig.
Es
gibt also weder in zeitlicher noch in örtlicher Sicht einen augenscheinlichen
Zusammenhang, und dennoch hat Biolay nach Rose Kennedy ein ganzes
Album benannt, zudem sein erstes. Und damit nicht genug: Auch die
Lieder kreisen um seine Protagonistin, teils macht er sie selbst zur
Erzählerin, teils lässt er andere sprechen, John F. Kennedy
etwa, oder den Mörder von Robert - so im Titel "Los Angeles".
Geschichte,
sagt Biolay, sei eine seiner Leidenschaften, Lieder zu schreiben die
andere. In den dreizehn Stücken seines Albums "Rose Kennedy"
verbindet er beides auf herausragende Weise. Das Schicksal der Rose
Kennedy, die sowohl den Aufstieg der Familie und das brutale Ende
ihrer prominentesten Mitglieder miterlebte, ließ ihn nicht los.
Aus einem Lied, dem späteren Titelsong, wurde schließlich
ein ganzes Album.
Dennoch
verlangt er nicht, dass man ein Kenner der Kennedy-Saga sein muss,
um das Album zu verstehen. Die Lieder könnten auch aus einem
ganz anderen, womöglich sehr privaten Zusammenhang stammen, es
gibt in ihnen tatsächlich keine eindeutigen persönlichen
und chronologisch nachvollziehbaren Hinweise auf die Familie. Vielleicht
sogar muss man noch nicht einmal Französisch verstehen, um sich
der Atmosphäre von "Rose Kennedy" vollends hingeben
zu können - so überwältigend ist der Eindruck, den
Biolay hinterlässt.
Mit
der abgeklärten Souveränität eines erfahrenen Show-Veteranen
geleitet der Endzwanziger Biolay den Zuhörer durch seine Lieder,
streut hier und da wie von Geisterhand kurze Sequenzen aus Marilyn
Monroes bewegendem "River of no return" und Dialogszenen
aus "Some like it hot" (Monroe und Tony Curtis) ein, die
dann doch so etwas wie eine zeitlichen Bezug herstellen, natürlich
auch eine Andeutung der komplizierten Beziehung der Monroe zum Kennedy-Clan.
Doch bei allem Interesse für die Zeitgeschichte - Biolays Musik
ist gegenwärtig, um nicht zu sagen: allgegenwärtig, von
geradezu greifbarer Intimität und Präsenz.
Biolay
mag es nicht, wenn man seine Musik als "Chanson" bezeichnet.
Dem SPIEGEL sagte er, Chanson sei für ihn "Musique du papa".
Dennoch gilt er vielen als Retter des Genres. Vielleicht versöhnt
es ihn mit der Musik seiner Eltern, wenn man ihm zubilligt (was keine
großen Mühen bereitet), dass seine Art des Chansons dessen
langjährige Isolation beendet und die Mauern zwischen der französischen
und der internationalen Musikszene niederreißt.
Biolays
"Chansons" (pardon !) sind entstaubt, erfrischend und runderneuert,
weil er ihnen Pop, Jazz, Blues, Computersamples und immer wieder diese
grandios inszenierten James-Bond-Orchestersounds (herausragend: "Les
joggeurs sur la plage", "Novembre toute l'année")
beimischt, die der Musik ihre Mondänität verleihen und Biolay
selbst den Ruf eines "Dandys des 21. Jahrhundert" bescherten.
"Rose
Kennedy" erschien in Deutschland im September 2002 mit einjähriger
Verzögerung. In Frankreich, wo das Album euphorisch aufgenommen
wurde, wurde außerdem ein Remix-Album veröffentlicht, und
inzwischen arbeitet Biolay längst an einem neuen Album.
©
Michael Frost, 19. Oktober 2002