Man
ist, was den nordeuropäischen Beitrag zur Popkultur anbelangt,
inzwischen einiges gewohnt. Schweden erfanden den Europop, Finnen machten
Tango zum Nationaltanz, Isländer überwanden den Gitarrenrock,
Norweger erklärten das Leise zum neuen Laut, Dänen begeistern
mit Alternative Rock. Von der Bedeutung nordischer Jazz-Instrumentalisten
und Interpreten und den zahllosen Independentprojekten, die sich der
digitalen Tonkunst verschrieben haben, ganz zu schweigen. Bis zu Blues
und Country reicht die Spannweite in den Ländern mit dem Kreuz
in den allerorts gern gehissten Fahnen, die den vermeintlichen Hauptstädten
des Musikbusiness den Rang abzulaufen drohen.
Fehlen
eigentlich nur noch Gospels und Spirituals, die Domäne afroamerikanischer
Christen, einzelnen gesungen oder im Chor, kraftvoll und beseelt,
in einer Kreuzung zwischen religiöser Verzückung, befreiendem
Rhythmus, Soul, Jazz und Blues.
Genau
in diese Koordinaten stößt nun eine junge Frau aus Oslo
(!) und erobert damit die vielleicht letzte Domäne, in welche
die skandinavische Musik bislang noch nicht vorgedrungen war. Und
Kristin Asbjørnsen hat zu den Südstaaten der USA, wo ihre
Musik ursprünglich herstammt, noch nicht einmal eine besondere
Bindung. Die Absolventin des Trondheimer Konservatoriums interessierte
sich zwar schon immer für afrikanische Musik, doch der Kontakt
zum Spiritual entstand allein durch eine Person: Ruth Reese.
Die
farbige Sängerin stammte aus Chicago, lebte aber seit 1960 in
Norwegen, wo ihr Kristin Asbjørnson (Jahrgang 1971) später
begegnete. Vor ihrem Tod 1990 vermachte Reese der jungen Kollegin
ihre umfängliche Sammlung von Spirituals. "Wayfaring stranger"
ist Asbjørnsens Hommage an ihre Förderin, und ihrem Andenken
gewidmet.
Schon
seit 1998 arbeitet Kristin Asbjørnsen mit dem Vermächtnis
Ruth Reeses. "Die Spirituals", erklärt sie, "dienten
ursprünglich dazu, die Fesseln der Sklaverei zu lockern'.
Und ich stellte immer wieder fest, dass diese Songs sich auch auf
unsere heutigen Probleme, auf unsere eigene Suche nach persönlicher
Freiheit, Entwicklung und Schutz übertragen lassen."
Ihrem
nun veröffentlichten Debütalbum "Wayfaring stranger
- A spiritual songbook" ist die lange Beschäftigung mit
dem Wesen der Musik anzuhören. Mit ihrer Band "Dadafon"
und verschiedenen Musikern, darunter Jazzpianist Tord Gustavson, hatte
sie einige der nun veröffentlichten Songs immer wieder gespielt
und die Arrangements dabei ständig variiert.
Am
Ende entschied sie sich - völlig zu Recht - für eine äußerst
reduzierte Instrumentierung: Jostein Ansnes (Gitarre), Jarle Bernhoft
(Bass, Percussion) und Anders Engen (Percussion, Piano) wahren die
Balance zwischen Zurückhaltung und unaufdringlicher Präsenz
meisterhaft. Für Kristin Asbjørnsen, die das Timbre des
Spirituals so frappierend und eindringlich verkörpert, als trage
sie das Schicksal afrikanischer Sklaven in sich, sind sie der ideale
Resonanzkörper. Sie lassen Raum für die wilde Energie ihrer
Stimme, die rau klingt und ungeschliffen, ein Diamant in Rohform,
wie geschaffen für diese Musik, deren Seele man nah zu kommen
glaubt, so unglaublich und berührend, und damit das vielleicht
erstaunlichste Debüt des Jahres.
©
Michael Frost, 08.09.2007