Babylon Circus, Dub Incorporation, Le Peuple de l'Herbe, ... :
Musik statt brennende Autos
Bands aus aus der Peripherie mischen die Hauptstadt-Szene auf

Spätestens seit MC Solaar oder Manu Chao weiß man, dass die französische Musikszene nicht nur in der Hochglanzwelt der Pariser Szene zu Hause ist. Im Gegensatz zum staatlichen Zentralismus kommen die Impulse für neue Musik oft genug aus der so genannten Provinz und den "Banlieus", den Vorstädten der Metropolen, in denen oft die Einwanderer die Bevölkerungsmehrheit bilden. Jüngst sorgte das Hiphop-Kollektiv "Saian Supa Crew" auch in Deutschland für Furore, doch daneben gelingt es immer mehr jungen Bands aus der Independent-Szene, auch im Ausland Fuß zu fassen. Einige von ihnen stellen wir auf dieser Seite vor.

An der schillernden Vielfalt der französischen Musikszene kann längst kein Zweifel mehr bestehen. Kaum ein Genre, das nicht durch eine frische, agile Bewegung junger Musiker abgedeckt würde. Das gilt inzwischen selbst für jamaikanische Rhythmen bzw. ihre Integration in europäische Elektro- und Dub-Sounds. "Dub Incorporation" aus St. Etienne ist eines der überzeugendsten Beispiele dafür, dass Reggae längst auch in Europa eine Heimat gefunden hat.

Mit ihrem zweiten Album "Dans le décor" versuchen die Franzosen, den druckvollen Reggae-Tanzsound mit ernsten Anliegen zu verknüpfen. In ihren Texten geht es immer wieder um soziale Missstände, Gewalt und Korruption, Themen, die nicht nur seit den Unruhen in den "Banlieus", den überwiegend von Einwanderern bewohnten Vororten französischer Großstädte, in aller Munde sind, sondern zu den Alltagserfahrungen der dort Aufgewachsenen gehören.

Es sind Bands wie "Dub Incorporation", die den ausgegrenzten Jugendlichen eine Stimme geben und ihre Themen transportieren und sich dabei unterschiedlicher Musikstile bedienen. In ihrem Sound aus arabischer Rhythmik, Hiphop, afrikanischen Beats und Reggae findet sich praktisch der gesamte Schmelztiegel der französischen Einwanderungsgesellschaft wieder. In der Mehrsprachigkeit der Texte (Englisch, Französisch und Kabylisch, die Sprache algerischer Berber) findet der multikulturelle Hintergrund der Musik seine Entsprechung.

Allerdings: Gerade aufgrund der Vielfalt ihrer Einflüsse mögen die acht Mitglieder der "Dub Incorporation" nicht gern als "französischer Reggae" bezeichnet werden. Doch die Kulturen Afrikas und Arabiens sind längst auch Bestandteil der französischen Musikkultur - allen Nationalisten zum Trotz. Insofern passt die Zuschreibung dann doch. Es ist eben nur eine Frage der Definition.

"Le Peuple de l'Herbe" stellte sich im Januar 2005 beim Eurosonic/Noorderslag-Festival in Groningen, einem Marktplatz innovativer Sounds aus ganz Europa, vor. "Ihre Musik ist eine kaleidoskopartige Landschaft aus Drum'n'Bass, Hiphop, Ragga, Funk, House, Dub, Breakbeat und einer Spur tropischer Rhythmen", schrieben die Veranstalter über die als DJ-Team gestartete Band aus Lyon.

Nur wenige Wochen später folgt nun die Veröffentlichung ihres Albums "Cube", das klingt. als wolle man die Beschreibung der Eurosonic-Macher um jeden Preis bestätigen, und so erwartet den Hörer eine Fülle von Sounds unterschiedlicher Stilrichtungen, die allerdings keineswegs wahllos ineinander arrangiert werden. Gemeinsame Basis der vier Musiker (DJ Pee, DJ Staini, Psychostick und N'Zeng) ist zweifellos der Hiphop in Verbindung mit harten Drums'n'Bass-Lines. Ausgehend von dieser Grundlage wird dann in alle Richtungen experimentiert.

N'Zengs jazzig-verspielte Trompete kontrastiert die harten Beats und steht dabei beispielhaft für das feine Melodie- und Rhythmusgespür der Band. Hierin liegt vielleicht die französische Komponente ihres Sounds: das Quartett hat keine Angst vor Atmosphäre. Trotz der "organischen" Grundlage ist "Cube" vor allem ein elektronisches Album. Wie die Teile auf dem Album-Cover: Keyboards, Turntables, Trompeten und Mischpulte fügen sich die Bestandteile zu einer neuen Einheit zusammen, die vor allem Fans der Star Treck-Serie bekannt vorkommen dürfte. Dort vereinigen sich Mensch und Maschine zu einer neuen Spezies namens "Borg", die in würfelförmigen Raumschiffen ("Cubes", sic!) das Weltall durchquert und alles in ihr kollektives Bewusstsein aufnimmt, was ihnen unterwegs begegnet. Motto: "Widerstand ist zwecklos, Sie werden assimiliert."

Deutlich harmonischer und ausgewogener als ihre Hiphop-Kollegen präsentieren sich "Les Hurlements d'Léo". Die acht Bandmitglieder feilen bereits seit 1995 an einem ur-eigenen Sound aus Folk, Rock, Chanson, Musette, Jazz, Polka und Gypsy-Swing. Damit stehen sie einerseits in der Tradition der legendären Négresses Vertes aus Paris, und andererseits macht ihre Musik sie zu engen Verwandten der 17 Hippies aus Berlin. Mit den Hippies arbeiteten Les Hurlements d'Léo 2002 erstmals zusammen. Drei Titel, die während gemeinsamer Studiosessions entstanden, finden sich nun auch auf ihrem neuen Album "Ouest terne", darunter auf "Ifni", der Titelsong der aktuellen Hippies-CD.

"Ouest terne" (sprich: Western) ist das dritte Album des Oktetts, das sich zum Ziel gesetzt hat, die einzelnen Komponenten seiner Musik, also Akkordeon, Geige, Saxophon, Trompete, Posaune, Kontrabass, Schlagzeug, Gitarren, singende Säge und Gesang in immer wieder neuer und unterschiedlicher Zusammensetzung zu präsentieren. Ergänzt um eine unberechenbare Mischung aus Tempi und Rhythmen ergibt sich wiederum ein Kaleidoskopbild, zweifelsohne in anderen Farbschattierungen als noch bei "Le peuple de l'herbe", aber nicht weniger mitreißend und feurig. Man ahnt bereits, weshalb "Les Hurlements d'Léo praktisch ohne Unterbrechung unterwegs sind (knapp drei Wochen vor ihrer Deutschland-Tour im Februar 2005 tourten sie noch die Metropolen Russlands). Von jeder Konzertreise, so klingt es, bringen sie auch etwas mit, womit sie ihren Sound nochmals erweitern.

Babylon Circus ist vielleicht so etwas wie die Schnittmenge von Le Peuple de l'Herbe und Les Hurlements d'Léo. Dass ihr neues Album "Dances of Resistance" von Laurent Jaïs produziert wurde, der auch schon mit Manu Chao arbeitete, überrascht angesichts des energievollen Bandsounds aus Ethnopunk, Latin, Ska und Reggae nicht. "Babylon" diente schon Manu Chaos ehemaliger Band Mano Negra als Symbol für ein undurchdringliches Gewirr aus Stimmen, Sounds und Rhythmen. Ihr 1994er Album "Casa Babylon" wird heute von Babylon Circus als Konzept weitergetragen, und wie schon bei Mano Negra verschmelzen auch bei Babylon Circus musikalische Stile mit politischen Inhalten.

Rassistische Politiker bekommen darin ebenso ihr Fett weg wie die Kriegstreiber der Weltpolitik ("Warlord, I saw you selling evil ..."). Doch die ernsten, manchmal auch wütenden Texte werden fast immer durch feurige Tanzrhythmen kontrastiert. Das stärkt das Selbstbewusstsein: Man wird sich die Lebensfreude nicht durch Intoleranz, Rassismus und Kriegshetze verderben lassen und bewegt sich damit auf der gleichen Ebene wie viele lateinamerikanische Bands, die zurzeit mit einigem Erfolg durch Europa touren (Karamelo Santo, Panteon Rococo u.a.).

Das gezielte Entgegensetzen positiver Sounds ist vielleicht die wahre Stärke von Bands wie Babylon Circus, Le Peuple de l'Herbe, Les Hurlements d'Léo und vielen anderen: Sie bilden gleichsam einen Gegenentwurf zu Politikern wie Präsident Chirac, der kürzlich sein Verständnis für diejenigen äußerte, die sich in ihren Siedlungen "vom Lärm und dem Geruch der Ausländer" belästigt fühlten. Die Multikulti-Sounds aus Bordeaux, Lyon, Paris und anderswo belästigen nunmehr den Präsidenten, und sie sind laut genug, damit bis in die "Bel étage" vorzudringen. Lautstarkes Motto: "Dances of Resistance".