Ihre Musik entspricht weder dem Pop-Mainstream noch dem Image der üblicherweise leicht versponnenen, naiv wirkenden skandinavischen Sonwriterin. Und trotzdem - besser: gerade deshalb ist Anna Ternheim aktuell die am hellsten strahlende Stimme Schwedens. Mit ihren leisen, melancholischen Songs, die sie gern mit bildgewaltigen Arrangements ummantelt, schafft sie es in ihrer Heimat inzwischen mühelos an die Spitze der Charts, strömen 4.000 Stockholmer in ein Konzert der Chanteuse, und unter den ganz wenigen Neuerscheinungen, die in den zusammengeschrumpften CD-Abteilungen der Kaufhäuser zwischen Luleå und Malmö überhaupt noch angeboten werden (ein wohl weltweit zu beobachtendes Indiz für die Krise der Musikbranche), steht immer auch ein Album von ihr. Aktuell ist es "Leaving on a mayday", ihr drittes Solowerk, das in Schweden bereits seit letztem Herbst zu haben ist. Es brachte Anna Ternheim zu Jahresbeginn gleich den schwedischen "grammi" in den beiden für sie wichtigsten Kategorien ein: "Album des Jahres" und "Beste weibliche Künstlerin".
Produziert wurde die CD von Björn Yttling (der 'Björn' der Indie-Band "Peter, Björn & John"). Er inszeniert Anna Ternheims melancholische Popballaden mal festlich, umgeben von Streichinstrumenten, mal auch rockbetont, vor druckvoller Schlagzeug-Kulisse. Das Tempo kontrastiert das gänzlich unaufgeregte, fast lakonische Timbre von Anna Ternheim, die auf ihre melancholische Grundüberzeugung auf keinen Fall verzichten will. Diese Stimmung macht sie heute nicht nur für Anhänger gepflegten Songwritings interessant, sondern auch für Fans von Downbeat und Triphop, was sie immer wieder in die Nähe von internationalen Kolleginnen wie Beth Gibbons (Portishead) rückt.
Die melancholische Stimmung (die übrigens niemals in Weinerlichkeit oder Sentimentalität umschlägt) wirkt nochmals verstärkt, wenn sie auf Begleitinstrumente verzichtet. Ihre ersten beiden Alben erschienen jeweils in limitierten "Deluxe"-Versionen, denen eine zweite CD beilag, auf denen Anna Ternheim "Naked Versions" der Albumsongs präsentierte. Dieses Konzept geht über das "unplugged"-Muster hinaus, denn auf elektrische oder auch digitale Sounds verzichtet sie ohnehin weitgehend. Die "Naked Versions" verdichten die Atmosphäre durch die weitere Reduzierung der Begleitinstrumente. Es ensteht eine intime Atmosphäre zwischen der Sängerin und einem Klavier, einer Gitarre, vielleicht einer Flöte oder einem Akkordeon, die ihresgleichen sucht. "Separation Road", Anna Ternheims zweites Album von 2007, hatte ebenfalls das Potential zum "Album des Jahres" - die "naked versions" allerdings noch mehr als die Fassungen des Originalalbums.
Videolink: Anna Ternheim "What have I done" (Acoustic) Quelle: youtube
Für "Leaving on a mayday" hat Anna Ternheim sich nun ein neues Konzept überlegt. Sie verzichtete auf die reduzierten Songfassungen, sondern legt der Deluxe-Ausgabe ihres Albums eine CD mit Sinatra-Songs bei. Und: Selbst dieses Wagnis (manche würden es Anmaßung nennen) gelingt. Es ist, als hätte sie all die mit Pathos, maskulinem Charme und dandyhaften Attitüden angereicherte Luft aus den Songs gelassen. Was übrig bleibt, klingt ungeschminkt und ungekünstelt, vollkommen unverstellt - hinter den gleißenden Scheinwerfern der Showbühne offenbaren sich Lieder einer sich selbst hinterfragenden Persönlichkeit. Andere Kolleginnen würden zerbrechlicher wirken, doch Anna Ternheim bleibt souverän und selbstbewusst. Aus Sinatras Schein wird Anna Ternheims Sein.
Wie man in Amerika auf Anna Ternheims Sinatra-Songs reagiert, ist offen. Ansonsten die Schwedin auch dort längst kein unbeschriebenes Blatt mehr. Nachdem eine eine dort veröffentlichte Compilation mit den besten Songs von "Somebody outside" und "Seperation Road" erschienen war ("Halfway to Fivepoints") und vermehrt Präsenz verlangte, zog sie sogar nach New York, wo dann schließlich auch die Aufnahmen zu "Leaving on a mayday" abgeschlossen wurden. Daneben fand sie noch Zeit, für das Göteborger Theater die Musik zu einer Aufführung von Howard Korders Schauspiel "Storstadljus" zu komponieren.
Anna Ternheim befindet sich mittlerweile auf der Überholspur. Ihre geradlinig-nüchternen, melancholischen Pop-Balladen treffen offenbar einen Nerv unserer Zeit, und sie heben sich so wohltuend von sonstigen Strömungen ab.
Ab Mitte April kommt Anna Ternheim für zehn Konzerte in die deutschsprachigen Länder. "Leaving on a mayday" erscheint am 13. Februar. Die "Deluxe Version" mit der Bonus-CD "Anna Ternheim sings Sinatra" ist jedoch zunächst nur als Import zu bekommen.