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Argentiniens Seele


Mercedes Sosa ist international die berühmteste argentinische Künstlerin. Ihre Karriere währte mehrere Jahrzehnte, und trotz einer schweren Krankheit in den letzten Jahren war die agile Sängerin lange nicht bereit, sich in den verdienten Ruhestand zurückzuziehen. Sie lebte für die Bühne, sie lebte auf der Bühne - und sie war das Gewissen ihres Landes.

Jahrelang sang sie gegen die Militärdiktatur in ihrer Heimat an. Sie war die Stimme der von der Junta zum Schweigen gebrachten Oppositionellen und der vielen Tausend verschwundenen Dissidenten.

Geradezu berühmt wurde sie 1978 durch einen folgenschweren Fehler des Regimes, dem sie ein Dorn im Auge war: Es ließ sie während eines Konzertes verhaften. Mercedes Sosa kam nur deshalb frei, weil ihr Auftrittsvertrag besagte, sie werde vor der Innung der Tierärzte singen, und nicht etwa vor protestierenden Studenten und Guerilleros.

Mercedes Sosa ist seitdem die Stimme des demokratischen Lateinamerika, Symbolfigur nicht nur in Argentinien, sondern auch im von der Pinochet-Diktatur ausgezehrten Chile, in Uruguay, ... - vom Schicksal heimgesuchte Völker gibt es in Südamerika mehr als genug. Für sie selbst wurde es unter den damals herrschenden Bedingungen immer schwieriger aufzutreten. Schließlich musste sie Argentinien verlassen und ins spanische Exil gehen.

Ihre Karriere begann Mercedes Sosa als Folkloresängerin, zu ihrem Repertoire gehörten später aber auch Adaptionen internationaler Hits, darunter Stings "They dance alone", seinem musikalischen Denkmal für die Mütter der Verschwundenen, die auch unter den Bedingungen der Militärdiktatur zu regelmäßigen Demonstrationen auf der Placa de Mayo von Buenos Aires zusammengekommen waren.

Mercedes Sosa arbeitete immer wieder gern mit politischen Weggefährten aus aller Welt zusammen. In Deutschland sind ihre gemeinsamen Auftritte mit der Folk-Legende Joan Baez und Konstantin Wecker unvergessen.

Dennoch, so sagte sie einmal im Gespräch mit der Berliner "taz", gebe es große Unterschiede zwischen ihr und so genannten "Protestsängern" aus Europa und Nordamerika, wie z.B. Bob Dylan:

"Wer sich für ein Leben als Musiker oder Sänger entscheidet mit all seinen Implikationen, entscheidet sich für ein Leben als Künstler. Man ist Hoffnungsträger oder Protestler, Feind oder Persona non grata - je nach Blickwinkel und Perspektive. Aber Dylan und ich, das sind auch aus anderen Gründen zwei verschiedene Welten. Zum einen ist er Nordamerikaner und ich bin Lateinamerikanerin. Zum anderen war ich nie Punk, Dylans Werk aber ist von einem Punkverständnis durchdrungen.

Da es unmöglich ist, in einem Land wie Argentinien das ganze Elend, die Verarmung, das Leid nicht zu sehen, ist es vielleicht auch eine Frage des Anstandes, sich nicht mit bürgerlichen Grabenkämpfen wie Punk oder nicht Punk auseinanderzusetzen. Ich beneide die Nordamerikaner ein wenig um diesen Luxus, denn auf künstlerischer Seite hat er immerhin zu einigen der schönsten Werke des 20. Jahrhunderts geführt."

Folkloristische Wurzeln und politisches Anliegen sind für sie nie ein Widerspruch gewesen. Sie habe auch nichts gegen den großen Boom, den die Musik Lateinamerikas, ausgelöst durch den Rummel um den Buena Vista Social Club, Shakira oder Ricky Martin inzwischen genieße, sagte sie in dem taz-Interview, auch wenn es dabei in erster Linie um das Bedürfnis nach "Latin-Exotik" und Unterhaltungsmusik und nicht um den von ihr maßgeblich geprägten politisch engagierten "Nueva canción" gehe:

"Ich glaube außerdem, dass es nicht notwendigerweise des politischen Liedes bedarf, um einen politischen Diskurs zu führen. Vielleicht war das alles auch nur eine Mode der Siebziger? Ich will nicht den Eindruck erwecken, ich wäre müde geworden, aber die Zeiten ändern sich. Ich habe nicht den Eindruck, dass es allgemein weniger Interesse an der Politik gibt.

Es gibt lediglich in der westlichen Welt ein geringeres Interesse, weil viele Dinge, für die man gekämpft hat, in irgendwelchen Kompromissen halbwegs akzeptabel durchgesetzt worden sind.

Mit anderen Worten: Heute hat Lateinamerika die gleichen Probleme wie viele andere Länder auch. Die Militärdiktatur war sicherlich für viele Menschen im Westen auch eine Art leichte Möglichkeit, Position zu beziehen. Gegen die Weltbank kann man ja sein, wie die Unruhen von Seattle zeigen - aber muss man deswegen gleich Lieder gegen den internationalen Währungsfonds singen?"

Man kann es auch mit dem Titel eines ihrer schönsten Lieder sagen: "Todo cambia" (Alles verändert sich). Aber nicht zwangsläufig zum schlechten. Jedenfalls nicht, solange die Welt moralische Instanzen wie Mercedes Sosa hervorbringt.

Mercedes Sosa starb am 4. Oktober 2009.

© Michael Frost, 01. April 2001
Zitate: die tageszeitung (taz) Nr. 6263 vom 6.10.2000, Seite 14
Letztes Update: 05.10.2009

 

 

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