So
ist es auf der Rio Reiser-Website zu lesen. Ob ihm das gefiele
? Ja, vermutlich. Nicht um der eigenen Bedeutung willen (er drängte
sich nie in den Vordergrund, man hat vielmehr den Eindruck, dass
er sich selbst zu sehr vernachlässigte und Raubbau mit dem
eigenen Körper betrieb), eher, um Strauß posthum zu
ärgern. Rio Reiser war bekannt für deutliche politische Kommentare,
mit denen er oft sogar im eigenen Lager aneckte - aber bei den
Konservativen immer und immer wieder mit Leidenschaft und Verve.
Damit
ist ein erster Pfeiler seiner öffentlichen Biographie gesetzt:
Der des politischen Sängers. Alles begann mit der Parole "Macht
kaputt, was euch kaputt macht" - Hymne der Post-68er Ära, der
Straßenkämpfer der 1970er Jahre. "Ich will nicht werden, was mein
Alter ist", sang Rio, der eigentlich Ralf Möbius hieß, und wurde
gemeinsam mit seiner mittlerweile legendären Band "Ton Steine
Scherben" zum Schrecken einer ganzen Elterngeneration und konservativer
Politiker überall in der Republik.
Rebellisch,
anarchisch, unberechenbar - nie vorher hatte es in Deutschland
solche Musik mit solchen Texten gegeben, die mit hemmungsloser
Offenheit alles wegfegten, was auch nur den Anschein von Spießigkeit,
Bürgerlichkeit und Establishment besaß.
"Keine
Macht für niemand", ursprünglich im Auftrag der RAF geschrieben,
dann von deren Kommandoebene aber abgelehnt, wurde nicht nur zum
Inbegriff des Credos der Hausbesetzer-Szene, sondern einer ganzen
protestierenden Generation. Die "Scherben" jedoch waren zunehmend
genervt, fast ausschließlich als Propagandamaschine missbraucht
zu werden, zogen sich immer weiter ins nordfriesische Fresenhagen
zurück (übrigens in Begleitung ihrer Managerin Claudia Roth, später
Bundesvorsitzende von Bündnis 90 / Die Grünen), wo sie u.a. Kinderplatten
und Theatermusik produzierten.
Das
ist eine weitere, oft unterschätzte Leidenschaft Reisers:
Bühne und Film. Gemeinsam mit seinen beiden älteren
Brüdern hatte er schon 1967 in Kreuzberg eine "Beat-Oper"
komponiert und aufgeführt. Und nicht nur als Komponist, sondern
auch als Schauspieler machte Rio sich einen Namen: Für seine Rolle
als "Johnny West" (1977) im gleichnamigen Film erhielt er sogar
den Bundesfilmpreis. Zweimal spielte er auch in Tatort-Folgen
mit (1989 und 1995), beide Male steuerte er auch den Titelsong
bei.
Die
"Scherben" trennten sich 1985 endgültig. Rio blieb in Fresenhagen.
Annette Humpe ("Ideal") produzierte seinen Solo-Erstling "Rio
I", der bereits das unvergessene "König von Deutschland" enthielt,
bis heute vielleicht sein bekanntestes Lied. Auf witzige und bissig-ironische
Art, dazu mit einer Palette rhetorischer Stilmittel, wie sie kaum
einer seiner Kollegen zu erreichen in der Lage ist, entfernte
Rio sich mehr und mehr vom Dogmatismus und den einfachen Parolen
der 1970er. Weil er aber auf von den Medien auf das Image als
Polit-Rocker festgelegt war, fanden seine zahlreichen und mindestens
ebenso guten Liebeslieder nicht die verdiente Aufmerksamkeit.
Alte
Scherben-Fans verübelten ihm den kommerziellen Erfolg - aber neue
Fans wogen den Verlust auf: Die Reiser-Biographie seiner späteren
Plattenfirma Sony erwähnt, dass die "Emma"-Leserinnen ihn, bzw.
"Sissy die Zweite", wie er sich selbst im Text zu "König von Deutschland"
genannt hatte, zur "Frau des Jahres" wählen wollten.
Seine
Lieder waren, anders als der aggressive Sound der Scherben, überraschend
melodiös. Oft wurden sie als die wahre "Volksmusik" bezeichnet:
Reiser, der Volkssänger, schrieb sowohl Kinder- und Weihnachts-
als auch Seemannslieder ("Übers Meer"), einige der schönsten
überhaupt.
Den
Erfolg und die damit einher gehende Aufmerksamkeit nutzte Rio
gezielt, um sich in das politische Geschehen einzumischen. Seine
Single "Alles Lüge" wurde von den GRÜNEN, die er auch sonst unterstützte,
als Wahlkampfmotto genutzt, und aus Protest gegen die Repressionen
von HIV-Infizierten und AIDS-Kranken durch den CSU-Rechtsaußen
Gauweiler sagte er alle Auftritte in Bayern ab.
Bereits
1976 hatte Rio sich als schwul geoutet. Seitdem hat er nicht oft
darüber gesprochen, wie er Äußerungen über sein Privatleben insgesamt
lieber vermied. In seinen Biographien werden Freunde und Lebenspartner
eher beiläufig - oder gar nicht - erwähnt, so dass man
beim Lesen das Gefühl nicht loswird, dass er in Wahrheit
einsam war.
Und obwohl er sich in der nach außen tolerant und offenen "linken"
Szene bewegte, wird es vielen seiner politischen Mitstreiter schwer
gefallen sein zu akzeptieren, dass Rio seine Liebeslieder, die
zweifellos zu den schönsten und poetischsten gehören, die jemals
für die deutschsprachige Popmusik geschrieben wurden, für Männer
schrieb.
Nach
der Wende trat Rio, für die meisten Beobachter völligüberraschend
und unverständlich, der PDS bei und unterstützte die Partei im
Wahlkampf. Er, der anarchische Poet und Einzelgänger, organisierte
sich, und das ausgerechnet in einer Partei, die noch ganz in der
Tradition der vormaligen SED, völlig über-organisiert und über-hierarchisiert
war. Sein Eintritt hatte Konsequenzen: Seine Lieder verschwanden
aus den Radioprogrammen, Fernsehauftritte wurden seltener.
Und
an dieser Stelle bekommt man vielleicht einen Einblick in eine
verkannte Seite Rio Reisers: Die des empfindsamen Idealisten,
der ständig auf der Suche ist nach der Lösung gesellschaftlicher
Missstände, dabei auch irrationale Wege geht und umso ratloser
wird, je höher sich die Probleme türmen. Der Zeitgeist
blieb gegenüber Reiser unerbittlich.
Die
selbstsüchtige Gesellschaft buchstabiert den Idealisten immer
öfter als Idioten. Rio, der Sensible, der
(Ver-)Zweifelnde, der Fragende, der Poet, wurde in Talkshows geladen,
um weiter den Bürgerschreck zu spielen - eine Rolle, die ihm schon
lange nicht mehr lag - verheizt, unverstanden von seinen alten
Fans, unverständlich für neue.
Bereits
seit Beginn der 1990er Jahre verschlechterte sich auch sein Gesundheitszustand.
Man spricht von Alkohol- und Drogensucht. Vor allem die Leber
machte ihm Probleme. Immer öfter zog sich nach Fresenhagen zurück
und lehnte es ab, weiter auf Tour zu gehen. Seine Musik wurde
nach allgemeiner Einschätzung zwar von Album zu Album besser,
aber die Medien ignorierten sie, weil Rio Reiser nicht ins Sendeschema
passte.
Unverstanden
ist er noch heute. Selbst seine Plattenfirma, die sich mit ihrer
Rio Reiser-Präsentation im Internet viel Mühe gab, gibt
den "König von Deutschland" heute für dümmliche
Party-Sampler Marke "Hüttenkult" und "Big
Brother"-Party-Compilations frei, wo man Rio zwischen Jürgen
Drews, "Zlatko" und "Klaus & Klaus" wiederfindet.
Gut, möchte man fast sagen, gut, dass er das nicht mehr erleben
muss.
Er
ließ sich seine Träume nicht nehmen, aber er schien zunehmend
zu resignieren, worunter er stark litt. Die ihm immer so trefflich
gelungene Ironie schlug in Zynismus um. Auf seiner letzten Platte
("Himmel & Hölle", 1995) sang er in Anspielung an den "König von
Deutschland" sogar: "Nehmt mir die Krone weg - nehmt sie zurück
- ich kann euch nicht führen, denn ich weiß den Weg nicht."
Er
starb am 20. August 1996 nach einem Kreislaufkollaps und inneren
Blutungen. Seitdem fehlt der deutschen Musikszene einer wie er.
Und seine Texte.
Keine
zwei Wochen später, am 1. September 1996 zollten ihm viele
seiner Freunde und Wegbegleiter mit einem gemeinsamen Konzert
im Berliner Tempodrom Tribut, darunter Herbert Grönemeyer,
Ulla Meinecke, Nationalgalerie, die Einstürzenden Neubauten,
Tim Fischer und "Frau Jaschke" aus dem Schmidt-Theater,
mit dessen Begründer Corny Littmann ihn eine lange Freundschaft
verband. (Das Konzert "Abschied von Rio" wurde auch
auf CD veröffentlicht.)
Und
Fresenhagen ist heute ein von seinem Bruder und einem eigens gegründeten
Verein geführtes Veranstaltungszentrum und Künstlertreff. Einmal
im Jahr wird dort der Rio-Reiser-Preis für den besten Politsong
verliehen.