Von
irgendwoher muss die Eingebung gekommen sein. Die Eingebung, die aus
einer knapp überdurchschnittlich talentierten Britpopband eines
der größten Ereignisse der jüngeren Vergangenheit machte:
innovativ, kreativ, stilbildend.
Faszinierend:
Die beste Rockband seit den Beatles ist überhaupt keine. Keine
Rockband im traditionellen Sinne. Manche Kritiker sollen ja mit der
Stoppuhr neben dem Lautsprecher gesessen haben um festzustellen, wie
lange das Album "Kid A" brauchte, bis überhaupt einmal
eine Gitarre zu hören war. Und auch, wenn Radiohead nach oberflächlichem
Eindruck dem Gitarrenrock frönen, so wie auf dem Album "OK
Computer", dann klingt das doch völlig anders als das, was
man bis dahin gewohnt war. Nicht selten gestalten sie einen einzigen
Song als Mini-Oper: "Paranoid Android" beispielsweise. Obgleich
nur knapp sechs Minuten lang, besteht das Stück aus mehreren
verschiedenartigen Elementen, die den Hörer auf Achterbahnfahrt
schicken.
Ein
unverzichtbarer Bestandteil des Radiohead-Sounds ist seit "OK
Computer" die Umsetzung epischer Elemente: Das lautmalerische
"Exit Music (For a Film)" produziert die Bilder im eigenen
Kopf. Hier finden wir den Vorläufer für das, was Bands wie
Sigur Rós beflügelte. Das wechselvolle Zusammenspiel von
Thom Yorkes eindringlicher Stimme und Jonny Greenwoods brüllender
Gitarre beschreibt einen bisweilen unerträglichen Spannungsbogen,
der sich tief ins Gedächtnis der Zuhörer eingräbt und
beim bloßen Gedanken an die Musik Gänsehaut erzeugt.
"OK
Computer" war der Durchbruch. Das ebenso opulente wie sperrige
Werk setzte Maßstäbe, die man Radiohead bis dahin wohl
nicht zugetraut hätte. Die Band war mit der vergleichsweise eingängigen
Single "Creep" berühmt geworden.
Im
Vergleich zu den "großen" Britpopbands der 90er Jahre
wie Blur und Oasis galten Radiohead schon immer als verschroben, intellektuell
und "verkopft". Das wachsende Medienspektakel war ihnen
suspekt, doch je mehr sie sich zurückzogen, umso erfolgreicher
wurden sie. Als 2000 der lang erwartete Nachfolger von "OK Computer"
erschien, war der Hype fast grenzenlos, obwohl Thom Yorke verkündet
hatte, es werde weder Video-Clips noch Single-Auskopplungen des Albums
geben.
Man
mag sich streiten, welches Radiohead-Album nun ihr bestes Werk ist.
"OK Computer" möglicherweise. Doch im Vergleich zu
den späteren Werken bleiben die Ansätze traditioneller Rockmusik
noch erkennbar. "Kid A" ist in seiner Gesamtheit anders.
"Geräusche, Töne und Laute, aus denen schließlich
gewaltige Klangteppiche gewebt werden, die mit 'OK Computer' nicht
mehr viel verbindet", urteilten wir damals. Oder ist es doch
"Amnesiac" ? Noch vor der Veröffentlichung von "Kid
A" hatten Radiohead an diesem Album gewerkelt. Ihre Arrangements
wirken darauf nochmals feiner, detaillierter, entrückter. "Amnesiac"
ist vielleicht die Essenz der vorigen Alben, doch bei weitem keine
Rückkehr zum Gitarrenrock. Im Gegenteil. Barbara Allen schrieb
über "Amnesiac" in der Londoner "Times":
"Ich, für meinen Teil, bin mir nicht sicher, dass es von
Radiohead besonders nett war, die Popmusik umzubringen. Gewiss, sie
war ein bisschen faul geworden, ein bisschen behäbig und selbstgerecht
und hätte wohl eine Aufmunterung verdient ..." (Pop-Lexikon)
Auch
mit "Hail to the Thief" wird die Popmusik keineswegs wiederbelebt.
Vor allem die beunruhigenden und drängenden Sounds, die die Spannung
von "Amnesiac" und "Kid A" ausmachten, wurden
auf das neue Album übertragen. Unablässig flimmern digitale
Sounds, wabern schräge Gitarren und wimmert der wiederum grandiose
Thom Yorke durch die zerklüfteten Soundlandschaften, die er gemeinsam
mit seinen Kollegen und Produzent Nigel Godrich schuf.
Überhaupt
Thom Yorke. Er hat sich längst zu einem männlichen Pendant
zu Portishead-Sängerin Beth Gibbons entwickelt. In seiner brüchigen
und melancholischen Stimme schwingt ein Maß an Verletzbarkeit,
Depression und Einsamkeit mit, wie man es bei männlichen Gesangskollegen
bestenfalls von Jonsi Birgisson (Sigur Rós) oder Robert Smith
(The Cure) kennt. Yorke geht jedes Pathos ab, schutzlos liefert er
sich aus, wenn er in seine Texte eintaucht. Die zum Reißen gespannte
Stimmung erweitert er nochmals um ein Vielfaches.
Wer
eine Kostprobe benötigt, höre am besten in einen Titel auf
"Hail to the Thief" hinein. Vor sparsamster Instrumentalbegleitung
und unvermitteltem Händeklatschen (!) lässt die monotone
und bedrohliche Entschlossenheit seiner Stimme das Blut in den Adern
gefrieren: "We suck young Blood, we want the young Blood."
Eine
politische Anspielung ? Sicherlich. Radiohead ist eine politische
Band. Thom Yorke über den Text dieses Songs: "Es handelt
von Sex als eine Art Währung, wie sie in Hollywood üblich
ist. Es ist Ausdruck dieses verzweifelten Drangs, um jeden Preis jemand
anders sein zu wollen, selbst wenn das bedeutet, dass man wie eine
Beute gerissen und von hinterhältigen Schmarotzern ausgesaugt
wird. Das findet man in der Musikindustrie, der Pornoindustrie, aber
auch in der Politik, wenn man etwa guckt wie die extremen Rechten
junge Leute verführen, sich ihnen anzuschließen. Faschismus
beginnt mit einem frustrierten 50jährigen Sadomasochisten, der
verwirrte Teenager aufgreift und sie für ein paar Jahre bearbeitet,
bis sie sich in mörderischen Skinhead-Schweine verwandelt haben."
Gut
möglich , und vieles deutet darauf hin, dass "Hail to the
Thief" der eigentliche Höhepunkt der musikalischen Arbeit
von Thom Yorke, Edward O'Brian, Phil Selway, Jonny und Colin Greenwood
ist. Oder aber - arme Konkurrenz - der Gipfel steht erst noch bevor.
©
Michael Frost, 12. Juni 2003