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Im Rhythmus der Zugvögel


In Zeiten, in denen auch die Musikbranche überwiegend nach dem Motto "Höher, Schneller, Weiter" verfährt, lernt man, Künstler die einen anderen Weg einschlagen besonders zu schätzen: Künstler die der Schnelllebigkeit der medialen Welt ganz bewusst die Zeitlosigkeit ihrer Musik entgegensetzen, denen es um Resonanz und Qualität geht, die mit ihren Klängen berühren und Geschichten erzählen wollen.

So erfreut sich das australische Quintett Naked Raven in Europa, vor allem in Deutschland und den Nachbarländern, seit einigen Jahren stetig anwachsender Popularität.
Naked Raven ist mittlerweile eine feste Größen in Konzertsälen und auf Openairbühnen. Im Rhythmus der Zugvögel verbringen die australischen "Raben" den europäischen Winter in ihrer Heimat, arbeiten in Melbourne an neuen Liedern und Alben, um diese im darauffolgenden Frühjahr und Sommer auf ausgedehnten Konzertreisen in Europa vorzustellen.

Vier Studioalben sind auf diese Weise in den letzten Jahren entstanden; dreißig, vierzig Konzerte innerhalb von zwei bis drei Monaten sind keine Seltenheit. Naked Raven ist eine ausgesprochene Liveband, die ihre Musik zwar im Studio entwickelt und probt, mit Melodien, Arrangements und Stimmen experimentiert - aber die ganze Brillanz ihrer Lieder entfaltet sich erst auf der Bühne.

So war es auch 2002, als Naked Raven - erstmals in der Besetzung mit den Bandgründern Russ Pinney und James Richmond sowie der neuen Sängerin Janine Maunder, Stephanie Lindner (Geige) und Caerwen Martin (Cello) - nach Europa kamen, um ihr Album "Wrong Girl" vorzustellen. Gemeinsam tragen sie den unverwechselbaren Charakter des Band-Sounds, bei dem (abgesehen von dem gelegentlichen Einsatz der E-Gitarre) akustische Instrumente überwiegen und eine Brücke zwischen Kammermusik, Folk, Pop und Alternative schlagen.

Das Live-Album, das an zwei Abenden im Juli 2002 in der Berliner Kalkscheune aufgezeichnet wurde, fängt die Atmosphäre der Konzerte perfekt ein. Die ausgefeilte Akustik, das leidenschaftliche Spiel mit Stimmungen und Schwingungen, ziehen das Publikum bereits beim Intro, einem Streicher-Solo von Stephanie Lindner und Caerwen Martin, in den Bann und lassen es bis zum letzten Ton nicht mehr los.

Charakteristisch für Naked Raven sind melodische Folk-Balladen und atmosphärisch dichte Popsongs, eindringliche Gesangsparts, überraschende Harmonien und Tempi-Wechsel, gefühlvolle Landschaften aus Klängen, die durch vorsichtige Verfremdungseffekte der Instrumente, komplizierte Taktsetzungen und herausfordernde Grundrhythmen niemals in die Banalität abgleiten, weshalb es ihnen fast mühelos gelingt, sowohl bei ihren Studioaufnahmen als auch unter Live-Bedingungen eine elektrisierende Atmosphäre konstanter Hochspannung herzustellen.

Die größte Stärke ist aber vielleicht die Ruhe und geradezu traumwandlerische Sicherheit, mit der Naked Raven Melodien entstehen, wachsen und (nach)wirken lässt. Besonders die Stücke, die im Konzert auf eine Länge von über sieben oder acht Minuten Länge ausgedehnt werden ("Paperboy", "Wasteland", "Steel", "Shore"), unterstreichen die optimale Besetzung der Band und den engmaschigen Bezug ihres Zusammenspiels. Hier spielt niemand geschäftsmäßig routiniert nebeneinander her: Pinney, Richmond, Maunder, Martin und Lindner interagieren, sie lassen sich Zeit, überprüfen sich, ihre Instrumente und die Wirkung der Musik auf das Publikum, wollen niemanden unberührt lassen.

Und so lauscht das Publikum - gespannt wie ein Geigenbogen - den elegischen Streichersätzen, der vorsichtigen Unterstützung von Schlagzeug und Percussions, der Gitarre, die den Sound der Band tragfähig macht - und lässt sich von der kristallklaren Stimme von Janine Maunder ergreifen, deren ebenso kraftvoller wie einfühlsamer Gesang den Dreh- und Angelpunkt des Klangs von Naked Raven bildet.

Erstaunlicherweise ist es der Gruppe gelungen, auf ihrer Live-CD nicht nur ihre Musik, sondern auch die außergewöhnliche Konzertatmosphäre festzuhalten - erstaunlich deshalb, weil gerade dieser emotionale Aspekt des Live-Erlebnisses vielen Konzertmitschnitten abhanden kommt. Doch "Naked Raven Live" wird auch zu Hause ein Hörgenuss mit Langzeitwirkung und dem Wunsch nach einer Fortsetzung. Und die kommt hoffentlich, obwohl hinter der Zukunft der Band einige Fragezeichen zu stehen scheinen, da Russ Pinney, immerhin der Komponist fast aller Songs, die Band im Frühjahr 2003 verlassen hat.

Seinen Platz hat jedoch inzwischen Steve Joyce eingenommen. Vielleicht findet die Band mit ihm zu ihrem Rhythmus zurück. Dann könnten Naked Raven schon im nächsten Frühjahr mit einem neuen Album nach Europa kommen. Wie die Zugvögel ...


© Michael Frost, März/Mai 2003

 


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