"Sie
ist Avant-Garde. Ihre neue englische Platte 'Not going anywhere' ist
ein Riesencoup, sie hat ein unglaubliches Talent" (Le Figaro,
29.10.2003) - Henri Salvador, Grandseigneur der französischen Chanson-Szene,
war voll des Lobes über seine junge Kollegin Keren Ann Zeidel,
die inzwischen, mehrere Jahre nach ihrem englischsprachigen Debüt, endgültig
zu einer der großen Hoffnungen der internationalen Musikszene
zählt.
Henri
Salvador, der bis zu seinem Tode im vergangenen Jahr zu ihren größten Bewunderern zählte,
war einer der ersten, der von Keren Anns außergewöhnlichen
Songwriter-Talent profitieren durfte. Gemeinsam mit Benjamin Biolay
hatte sie 2000 einige Titel für "Chambre avec vue"
geschrieben, das Album, mit dem Salvador einen überraschenden
zweiten Karrierefrühling erleben sollte. Für Keren Ann war
es der erste Höhepunkt einer mehrjährigen Zusammenarbeit
mit Benjamin Biolay - heute ebenfalls einer der gefragtesten Namen
des Nouvelle Chanson.
Im
selben Jahr veröffentlichte Keren Ann auch ihr erstes Solo-Album.
"La biographie de Luka Philipsen" beschreibt bereits im
Albumtitel ihren musikalischen und persönlichen Hintergrund.
"Philipsen" ist der Famlienname ihrer Großmutter,
und "Luka" bezieht sich auf den weltberühmten Hit von
Suzanne Vega, die von ihr hoch verehrte Songwriterin. In deren Vorprogramm
durfte sie inzwischen an zwei Abenden im Pariser Olympia auftreten.
Mit
Benjamin Biolay produzierte sie nicht nur ihr Debüt-Album, sondern
auch "La disparition", ihre zweite CD, und umgekehrt war
sie an der Entstehung von Biolays Debüt "Rose Kennedy"
maßgeblich beteiligt. Das Doppel Zeidel/Biolay war auf dem besten
Wege, sich als fester Markenname in der französischen Musikbranche
zu etablieren, doch längst gehen beide getrennte Wege, um jeweils
eigene Ideen zu verwirklichen. Biolay verabschiedete sich auf seine
ganz persönliche, poetische Art und Weise, indem er ihr ein Lied
auf seinem aktuellen Album "Négatif" widmete (La
pénombre des Pays-Bas):
"Le
soleil rouge // dans les rideaux // ton beau visage // de bas en
haut // tes cheveux longs // contre ma peau // le jour se lève
... pour la première fois // dans la pénombre des
Pays-Bas // à mes côtés // tu n'es pas là
..."
Pays-Bas,
Niederlande, wo Keren Ann ihre Kindheit verlebte. Im Alter von elf
Jahren kam sie mit ihren Eltern nach Paris, doch geboren wurde sie
in Israel als Tochter eines russischstämmigen Israeli und einer
Holländerin, deren Familie mütterlicherseits aus Java stammt.
Die vielfältigen kulturellen Einflüsse mögen ihr Talent
als Musikerin beflügelt haben, direkt auf ihren Stil niedergeschlagen
haben sie sich jedoch nicht.
In
allem, was sie tut, bleibt sie stets die leise Songwriterin, die am
liebsten mit ihrer Gitarre leise Lieder anstimmt, unprätenziös
und melancholisch, deren Ausdrucksstärke durch ihre sanfte Stimme,
subtile Poesie und das bezaubernde Lächeln bestimmt wird.
So
erlebte man sie auch auf ihrem dritten regulären Studioalbum
"Not going anywhere". Es war ihre erste CD in englischer
Sprache und vielleicht auch der erste deutliche Hinweis, dass sie
sich fortan nicht mehr allein auf die französische Szene festlegen
lassen will. Einige der Stücke sind Übersetzungen von Titeln,
die bereits auf "La Disparition" auf Französisch zu
hören waren, doch die meisten Lieder sind neu, wenngleich sie
stilistisch überwiegend den vorigen Alben folgen: leise, melodiöse
Folkpop-Balladen in der Tradition der "Quiet is the new loud"-Bewegung.
Ihr
Output ist enorm. "Vier Asse" schrieb die "Liberation"
bewundernd und meinte damit die Gesamtzahl der Alben mit ihrer Beteiligung,
die in Frankreich im Herbst 2003 praktisch zeitgleich veröffentlicht
wurden:
Neben
"Not going anywhere", ihrer eigenen CD, schrieb sie auch
wieder für das neue Album von Henri Salvador. Außerdem
startete sie eine Zusammenarbeit mit der isländischen Band "Bang
Gang" (zu hören auf deren Album "Something wrong").
Mit dem Bandleader Birgi Johansson ging sie darüber hinaus die
wohl ungewöhnlichste Kooperation ein: Ihr gemeinsames Konzeptalbum
"Lady & Bird" erzählte in beklemmenden Bildern die
Geschichte zweier Kinder, die in Körpern von Erwachsenen gefangen
sind und ihre Umwelt weder sehen noch hören können. Ihr
aus dem Off zu hörender Freund "Shepard" gibt ihnen
die Identität von "Lady" und "Bird". "It's
all in your mind" lautet das wiederkehrende Credo angesichts
der fehlenden Kontaktmöglichkeiten der beiden eingesperrten Kinder.
Die
bizarre Rahmenhandlung findet vor einer nicht minder aufwühlenden
Soundkulisse aus psychedelischem Retrosound à la Air, den Klanglandschaften
anderer isländischer Bands wie Múm und Sigur Rós
und introvertierten Gitarrenballaden statt, außerdem gibt es
mit "Suicide is painless" (Altman/Mandel) und "Stephanie
Says" (Velvet Underground) zwei Coverversionen.
Inzwischen
hat Keren Ann längst eine weitere Karrierestufe erreicht. Mit
"Nolita" (2005) verließ sie Frankreich, um fortan
in den USA zu arbeiten. Das Album ist einem New Yorker Stadtteil "NOrth
Of Little ITAly" gewidmet, und auch ihre zwei Jahre später erschienene, selbst betitelte
CD knüpft an den internationalen Hintergrund an. Heute wird gern
auf ihre niederländisch-israelischen Wurzeln verwiesen, und wohl
auch sie selbst mag es als Befreiung empfinden, nicht länger
auf das französische Neo-Chanson festgelegt zu sein. So arbeitete sie weiter mit Bardi Johannsson an ihren jeweiligen Projekten. Gerade erst erschien mit "La ballade of Lady & Bird" eine Liveeinspielung, auf der vierzehn Titel beider Interpreten aus den vergangenen Jahren vor einer aufregend opulenten Soundkulisse zu hören sind: Keren Ann ("Lady") und Johannsson ("Bird") wurden vom Isländischen Sinfonieorchester begleitet.
Doch
andererseits ist auch die Schönheit ihrer frühen, französischen
Alben "La disparition" und "La biografie de Luka Philipsen"
absolut zeitlos und betörend. Umso erfreulicher ist es, dass
ihre deutsche Plattenfirma beide CDs zwischenzeitlich auch hier herausbrachte.